Biografieempfehlungen 2012

Biografieempfehlung des Monats Dezember 2012

Dominique Bourel: Moses Mendelssohn
Ob Effenberg oder Eichendorff, Böll oder Boris; Biografien werden immer populärer und drängen unwiderstehlich auf den Büchermarkt. Gerade in diesem schwierigen Genre gilt es jedoch das Seichte vom Profunden, das Billige, den Ramsch, vom im Wortsinn Kostbaren zu trennen. Eine sorgfältig recherchierte und gut geschriebene Biografie verspricht dem Leser in mancherlei Hinsicht einen Gewinn. Sie gibt einen tiefen Einblick in eine Persönlichkeit, von der er vielleicht schon eine vage Vorstellung gehabt hat, und verschafft ihm zudem ein Verständnis einer historischen Lebenszeit, die faszinierend wirkt durch ihre zahlreichen personalen Verflechtungen und historischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Anspielungen. In diesem Sinne empfehlenswert ist die Lebensdarstellung D. Bourels über einen Großen, aber weithin Vergessenen der deutschen Geistesgeschichte. Sie wird allerhöchsten Ansprüchen gerecht, bleibt trotzdem gut lesbar. Der Rahmen dieser Präsentation beschränkt mich auf Stichworte zu Moses Mendelssohn (1729-1786), der mit Fug und Recht als einer der wichtigsten Vertreter des jüdischen Geisteslebens bezeichnet werden kann. Er ist der Begründer des modernen Judentums. Er war Ahnherr einer großen und weit verzweigten Familie. Bekannter ist heute sein Enkel Felix, Komponist wie dessen Schwester Fanny. Er war ein Freund Lessings und Vorbild für dessen Nathan. Bereits kurz nach seinem Tod kursierten Epitheta jeder Art: Er wurde beschworen als Luther der Juden, Voltaire der Juden, Platon der Deutschen, Sokrates seines Zeitalters. Goethe dichtete über ihn: "Es ist ein Gott, das sagte Moses schon / Doch den Beweis gab Moses Mendelssohn." Das Buch stellt zugleich die Geschichte des Judentums in Deutschland dar. Gleich zu Beginn schildert Bourel eine schrecklich makabre Szene aus einem Theaterstück von 1987. Sie spielt im letzten Kriegsjahr 1945. 
Empfohlen von Alfons Huckebrink

Die Biografieempfehlung des Monats November 2012

Augustinus: Confessiones - Bekenntnisse. Lateinisch-Deutsch, Reclam -Verlag.

Diese neue Übersetzung wird vom Reclam-Verlag als "Urform aller Autobiografien" bezeichnet, was vom Übersetzer und Herausgeber, dem Philosophen Kurt Flasch relativiert wird. Interessant aus Psychologischer Sicht der Wandel der Haltungen im Laufe der Lebensgeschichte des Augustinus, die von Kurt Flasch in seinem Vorwort äußerst spannend skizziert und erläutert werden. Die Confessiones entstanden erst nach dem Tod seiner Mutter, einer strengen Christin, die ihn während seiner Jugend mit unzähligen Ermahnungen, Vorwürfen und Tränen konfrontiert hat, was die Wurzel für tiefe Schuldgefühle gewesen sein könnte und ihn sogar dahingehend beeinflusste, seine (nichteheliche)  Partnerin zu verlassen, mit der er ein gemeinsames Kind hatte. Das Buch, vermutlich 397 n.Ch. geschrieben, trägt die Spuren der spätantiken Zivilisation und ihren Einfluss auf die heutige abendländische Kultur. Der Umgang mit (Lebens-) Lust und Sexualität im Christentum und in der gesamten abendländischen Kultur wurde zweifellos von Augustinus geprägt. Dies fällt besonders dann ins Auge, wenn man sich kontrastierend die Lektüre aus einem anderen Kulturkreis vor Augen führt: z.B. die Schöpfungsgeschichte der Maori, wie sie Tina Makareti in ihrer Kurzgeschichte "Haut und Knochen" (2010) beschreibt  (erschienen 2012 im DTV-Verlag: Ein anderes Land). Empfohlen von Gudula Ritz-Schulte

Die Biografieempfehlung des Monats Oktober 2012

Salman Rushdie: Joseph Anton. Die Autobiografie

Am 14. Februar 1988 nahm der Schriftsteller Salman Rushdie, ein Brite mit indischen Wurzeln, an der Beisetzung seines Freundes Bruce Chatwin teil. Durch eine Reporterin der BBC erfuhr er vom Todesurteil, das der geistliche und politische Führer des Irans, Ayatollah Khomeini, gegen ihn ausgesprochen hatte. Die westliche Welt lernte einen neues Wort kennen: die Fatwa. Khomeini rief die Muslime in aller Welt zur Vollstreckung auf. Um diese zu beschleunigen, wurde ein Kopfgeld von drei Millionen US-Dollar ausgesetzt. Anstoß hatte Rushdies jüngstes Buch, "Die satanischen Verse" (1988), erregt, das gegen den Iran, den Propheten und den Koran eingestellt sei und eine Beleidigung für alle Muslime darstelle.

Die Fatwa veränderte das Leben Rushdies, der 1981 durch "Mitternachtskinder" auch international bekannt geworden war. In den folgenden zehn Jahren lebte er im Verborgenen, ständig geschützt durch ein geheimes Polizeiteam, ständig seinen Wohnort wechselnd, ständigen Angriffen ausgesetzt, nicht nur aus der islamischen Welt. Aus den Vornamen seiner Lieblingsschriftsteller Joseph Conrad und Anton Tschechow bastelt er sein Pseudonym Joseph Anton. Die soeben erschienene 700 seitige Autobiografie gleichen Namens beschäftigt sich vor allem mit den zerstörerischen Auswirkungen der Todesdrohung auf sein Leben und das seiner Familie. Sie erzählt auch von der Solidarität seiner Freunde, den Ausflüchten der Politiker und ist ein großartiges Plädoyer für die unbedingte, durch keine kulturelle Erwägung zu relativierende Freiheit in Kunst und Rede. Unbedingt  zur Lektüre empfohlen.

Von Alfons Huckebrink  

Die Biografieempfehlung des Monats September 2012

Anatol Regnier: Frank Wedekind. Eine Männertragödie
Frank Wedekind lebte von 1864 bis 1918. Anatol Regnier, Sohn von Pamela Wedekind und dem Schauspieler Charles Regnier, versieht seine beeindruckende Biografie über seinen Großvater nicht zu Unrecht mit dem Untertitel 'Eine Männertragödie'. Dieser spielt natürlich an auf "Eine Kindertragödie", den Untertitel von Wedekinds wohl bekanntestem Drama "Frühlings Erwachen", das in seiner Entstehungszeit höchst umstritten war, heute zum Spielplan zahlreicher Häuser gehört und nicht zuletzt auch von Schülertheatern immer wieder gerne aufgeführt wird. Andere bekannte Dramen sind "Lulu" oder etwa "Hidalla". In manchen seiner Stücke trat Wedekind selbst auf, so etwa als der 'vermummte Herr' in 'Frühlings Erwachen'. Außer als Dramatiker kennen viele Wedekind als Lyriker, dessen Gedichte ebenso wie die Theaterstücke die bigotten Moralvorstellungen der wilhelminischen Ära aufs Korn nahmen.

Aus der Flut von Titeln, deren Zuordnung ins Genre "Biografie" für den anspruchsvollen Leser manchmal nur schwer nachvollziehbar ist, ragt Regniers Wedekind-Buch eindeutig und unangefochten heraus. Für mich sind es drei Aspekte, die es nicht nur zu einer Lebensbeschreibung, sondern darüber hinaus zu einer sehr dichten Zeitstudie machen:

- ein intensives Eingehen auf die familiären Wurzeln

- der intensive Bezug auf die jeweilige politisch-gesellschaftliche Konstellation, etwa in der Schilderung von Wedekinds Mitarbeit am 'Simplicissimus', die ihm letztlich eine Festungshaft einbrachte

- die intensive Auseinandersetzung mit Wedekinds sexuellem Begehren - jenem 'Abgrund zwischen Mann und Frau' - und seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Inszenierungen von Bürgerlichkeit.

Empfohlen von Alfons Huckebrink

Die Biografieempfehlung des Monats August 2012

In dieser aufrichtigen und interessanten Autobiografie einer sehr intelligenten Frau beschreibt Simone de Beauvoir ihre Selbstentwicklung und Emanzipation. Sie erzählt, wie sie sich aus den unsichtbaren Fesseln ihrer konservativ-bürgerlichen Erziehung, die zu der damaligen Zeit auch von Lust- und Frauenfeindlichkeit geprägt war, befreit hat. Empfohlen von Gudula Ritz-Schulte.

Die Biografieempfehlung des Monats Juli 2012

Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen

Die Bedeutung des ersten Satzes für das Gelingen eines Romans ist vielfach belegt. Dass lediglich zwei Auftaktworte eine Autobiographie inhaltlich ausrichten können, beweist „Der Patagonische Hase“ von Claude Lanzmann: Das Subjekt „Die Guillotine …“ leitet 667 Seiten Lebensbeschreibung ein, von denen keine ausgespart werden sollte. Kein leichtes Ansinnen, denn bereits das erste Kapitel mutet dem Leser einiges zu: Es widmet sich der Todesstrafe und ihrer Vollstreckung. Die frühe Eindrücklichkeit von Gewalt bestärkt ihn, sich niemals abzuwenden, stets für das Leben einzutreten. In den Jahren des Algerienkriegs durchwacht er mit Simone de Beauvoir die Nacht vor Hinrichtungen am Telefon des Anwalts Jacques Vergès, um jemanden zu erreichen, der wiederum andernorts Fürsprache einlegen könnte oder es wagte, General de Gaulle selbst zu wecken. Vergebliches Bemühen, aber unverzichtbar als Parteinahme für das Leben. Die Lebensbejahung des unabhängigen Intellektuellen zwingt ihn, vor Entscheidungen nicht zu kneifen, Angst zu überwinden, der Feigheit zu trotzen. Vor dieser klammen Schwäche ist niemand gefeit, gerade dann nicht, wenn Engagement das Leben kosten kann. „Wie oft habe ich mir die Frage gestellt, wie ich mich angesichts der Folter wohl verhalten hätte. Und immer lautet die Antwort, dass ich nicht imstande gewesen wäre, mich selbst zu töten, um ihr zu entgehen.“ Keine hypothetische Überlegung: Seit 1943 leitet er in seinem Lycée in Clermont-Ferrand den Widerstand, doppelt gefährdet als Jude und kommunistischer Aktivist.

Beklemmung verursacht die Beschreibung jener zwölf Jahre, die die Entstehung von Shoah (1985) nachzeichnen. Die Vernichtung der europäischen Juden durch Zeugenaussagen zu dokumentieren, ist als Herausforderung gigantisch und bleibt lange unverstanden und durch finanzielle Engpässe gefährdet. Der Titel der Autobiografie verdankt sich der Erinnerung an jenen patagonischen Hasen, den der 70-Jährige in El Calafate im Scheinwerferlicht erblickt und der ihn an die Hasen im Vernichtungslager Birkenau denken lässt, die unter dem Stacheldraht durchschlüpften: ein Moment der Vergegenwärtigung, der Gewissheit, eins geworden zu sein mit dem fernen Ort. „Ich hatte die Kraft, mir Zeit zu nehmen“, sagt Lanzmann mit Bezug auf Shoah. Lebenszeit wird hier als Erlebenszeit ausgebreitet. Dem Leser begegnet das „Ich unter den Bedingungen seiner Zeit“ (Walter Jens). Viel mehr kann er von einer Autobiographie nicht erwarten. Empfohlen von Alfons Huckebrink



Die Biografieempfehlung des Monats Juni 2012

Leonard Cohen: Das Lieblingsspiel

erschien 1963. "Das Lieblingsspiel" ist ein autobiografisch gefärbter Debütroman von Leonard Cohen (* 1934 in Montreal). Der Roman erschien 2009 neu von Gregor Hens ins Deutsche übersetzt beim Verlag Blumenbar und seit 2011 als Taschenbuch. Der Roman ist ein Klassiker der modernen kanadischen Literatur und beschreibt die Jugendzeit, die erotische Initiation und das Erwachsenwerden des Protagonisten Breavman. Diese Biografie wurde mit Begeisterung gelesen und deshalb empfohlen von Gudula Ritz-Schulte.



Die Biografieempfehlung des Monats Mai 2012

Brian Wilson: Sein Leben für die Musik wird hier geehrt vom Kennedy Center in New York im Jahr 2008. Art Garfunkel hält die Laudatio für den Mitbegründer der Beach Boys. Er skizziert das Leben des Künstlers auf einfühlsame Weise und bringt Höhen und Tiefen einer einzigartigen Autorschaft in Erinnerung. Dieser biografische Link wird von Alfons Huckebrink empfohlen.

 

 

http://www.youtube.com/watch?v=ARd2tmTNB8s

Die Biografieempfehlung des Monats April 2012

Emily Dickinson. Wilde Nächte. S.Fischer-Verlag.

(1830-1886 in Amherst, Mass.)

Dieses Buch ist sehr empfehlenswert, da es Einblicke in die Zeit des 18. Jahrhunderts im puritanischen Nordamerika bietet.

Es handelt sich um eine indirekte Biografie in Form  einer Briefsammlung, die Einblicke in die Erlebenswelt der berühmten Dichterin ermöglicht.

Aus ihren Briefen spricht Leidenschaft, Sehnsucht und Poesie sowie eine große innere Freiheit, die in deutlichem Widerspruch zu ihrem zurückgezogenen äußeren Leben steht. Empfehlung von Gudula Ritz-Schulte