Autor des eigenen Lebens werden:

Jeden Monat neu: 134 Autobiografie- und Biografieempfehlungen!!!                                                         Seit dem 1. April 2012 ... Wir freuen uns!

Literatur und autobiografische Aufmerksamkeit

Eine Kooperation rund um das Thema autobiografische Aufmerksamkeit und autobiografisches Schreiben

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Soeben erschienen!

Zum Inhalt:

Frieden … kein Thema sollte wichtiger sein in diesen Zeiten. Zum 375. Jahrestag des Westfälischen Friedens zu Münster und Osnabrück im Jahr 2023 lud die Regionalgruppe Münsterland des Verbands deutscher SchriftstellerInnen (VS) AutorInnen aus ganz Westfalen ein, sich Gedanken zu machen: Wie sieht Frieden aus? Wie kann man ihn erreichen und wie dauerhaft sichern? Die westfälischen SchriftstellerInnen beantworteten diese Fragen mit einer Fülle von Gedichten, Geschichten und anderen Textformen. Entstanden ist daraus eine Friedens-Anthologie aus Westfalen, die zum Weiterdenken anregt. Die den wichtigen Westfälischen Friedensschluss von damals in Beziehung setzt zu unserem offenbar doch nicht ganz so stabilen Frieden heute. Die aus den Geschehnissen von früher bis heute eine Utopie für morgen entwirft.

Zum Buch

Die Biografieempfehlung des Monats Mai 2023

Christine Wolter: Die Alleinseglerin. Hamburg: Ecco/Harper Collins 2022

 

Die Schriftstellerin Christine Wolter lässt in ihrem autofiktionalen Roman die Grenze zwischen Fiktion und Autobiografie unklar. Die Ich -Erzählerin Almut lebt in Mailand, es regnet, und dieser Regen bringt ihr Erinnerungen an einen anderen Ort weiter im Norden, den Ort ihrer Kindheit. An einem See, dem Müggelsee, wo ein altes Segelboot steht, ihr Segelboot, welches sie gegen jedes rationale Kalkül von ihrem Vater übernommen hat, ein Drachen aus Holz, bis 1972 den Status einer Olympia-Klasse. Der Name „Drachen“ stammt ursprünglich von dem norwegischen Wort „Draggen“ = Anker, es handelt sich demnach um einen Übersetzungsfehler. Die Ursprungswerft lag in Norwegen, wo der Draggen als Holzboot vom Stapel lief.

Der Vater, der ihre Mutter (und die Autorin) verlassen hat, als sie 12 ist, bringt ihr das Segeln bei. Warum denkt sie jetzt daran, dass sie so viel für dieses Holzboot geopfert, so viel investiert hat gegen jede Vernunft? Will ich ihn, von dem mich ein halbes Jahrhundert trennt, näher holen?. Was vielleicht ihr irrationales Festhalten an dem Boot impliziert: Wollte sie den Vater nicht loslassen?.

Nur in einem Teil seines Lebens ist sie anwesend. Auf dem Seegrundstück hat der Vater ein Holzhäuschen als Wochenenddomizil, sie und ihre Schwester haben dort unter dem Dach Prinzessinnenzimmer,… so nennt es der Vater. Später, während der Studienzeit, nimmt sie ihren Freund mit dorthin, von dem sie ein Kind erwartet. Nicht nur das Segeln klappt schon bald nicht mehr gemeinsam – auch die Beziehung zerbricht – sie zieht ihr Kind alleine groß. Sie segelt alleine, trägt die alles verschlingenden Kosten alleine und wird merkwürdig angeblickt als im Verein unter den Bootseignern. Als einzige Frau verbringt sie ihre Wochenenden fast nur noch am See oder in der Werft, die Männer belächeln sie. Sie kann sich einfach nicht von dem Boot trennen, obwohl es sie fast ruiniert und sie ihren Sohn deswegen, so wie sie es beschreibt, vernachlässigt. Sie erklärt es sich und ihrem Sohn Hanns, dem das Werk gewidmet ist, mit dem in ihrem Leben einzigartigen Gefühl der Freiheit, welches diesen Preis wert ist. Auch eine nicht gelebte Liebesbeziehung wird angedeutet, an die sie wieder anknüpft, zumindest kurzfristig, als sie tatsächlich einmal von Mailand in den Norden reist, um nach dem Boot zu sehen. Als Seglerin, wenn auch nicht als Alleinseglerin, empfiehlt Gudula Ritz diesen autofiktionalen Roman. Auch als Verfilmung, z.B. bei Youtube, ist das Thema gut umgesetzt.

Die Biografieempfehlung des Monats April 2023

Barbara: Es war einmal ein schwarzes Klavier ... Unvollendete Memoiren. Göttingen: Wallstein Verlag 2017

Herausgegeben von Andrea Knigge, übersetzt von Annette Casasus

 

 

Was ich nun sage, das klingt freilich

Für manche Leute unverzeihlich

Die Kinder sind genau die gleichen

In Paris wie in Göttingen

 

Paris wie Göttingen. Ein bizarrer Vergleich? Die Chansonnière Barbara ist in Deutschland, wenn überhaupt, vor allem mit ihrem Lied Göttingen bekannt geworden. Dorthin, ins Land der Täter, ist sie 1964 zu einem Gastspiel eingeladen, auf das sie sich zunächst nicht einlassen will; aber bald darauf, im Nachklang, entsteht das Lied. Im Text gibt sie ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, dass sich ihre Vorbehalte gegenüber den Deutschen nicht bestätigt haben und diese sich im Alltag mit seinen kleinen Freuden und vielen Sorgen nicht groß voneinander unterschieden. Schließlich seien beide vereint in der Angst vor einem neuen Krieg. Göttingen mit seiner berühmten Universität wird für sie zur Stadt der Brüder Grimm. Ihr Lied, das sie bald auch auf Deutsch singt, avanciert rasch zu einer Art Hymne deutsch-französischer Verständigung und wird etwa vom Bundeskanzler Schröder oder Bundespräsidenten Gauck bei Staatsbesuchen zitiert. Der deutsche Sänger Franz Josef Degenhardt bezieht sich in seinem gleichnamigen Lied explizit auf Barbaras Göttingen und beschreibt eine andere Sicht auf die Stadt.

Wer mehr in Erfahrung bringen möchte über diese großartige Künstlerin, die 1930 in Paris als Monique Andrée Serf, zweites von vier Kindern einer jüdischen Familie mit Wurzeln im Elsass und in der Ukraine, geboren wird, hat dazu Gelegenheit beim Anschauen ihrer zahlreichen beeindruckenden Musikclips auf Youtube und vor allem beim Lesen ihrer autobiografischen Aufzeichnungen. Ihre Jugend verbringt sie als Jüdin unter den Bedingungen der Besatzung Frankreichs durch die Wehrmacht. Diskriminierende Gesetze und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung machen mehrere Wohnortwechsel erforderlich, die Familie wird zerrissen. Ein besonders enges Verhältnis entwickelt sie zur Großmutter Varvara Brodsky, aus Odessa stammend, deren Vornamen sie als Künstlerinnennamen adaptiert. Schon frühzeitig setzt sie sich mit ihrem Wunsch durch, Klavierunterricht zu bekommen. Das Instrument wird gemietet. Entscheidet man sich eines Tages dafür, zu singen, oder ist es nicht vielmehr eine lange und schöne Krankheit, die man in sich trägt und von der man niemals vollkommen geheilt wird? Bald wird ihre Lehrerin auf die Stimme aufmerksam und bestärkt sie. 18-jährig reißt sie von zuhause aus. Es beginnt eine mühsame Zeit mit kleinsten Engagements und für sie unvorteilhaften Verträgen zunächst in Paris, dann in Brüssel, wo sie durch zwielichtige Clubs tingelt und sich mehr als einmal zweideutigen Avancen widersetzen muss. Von 1954 bis 1964 hat sie ein Engagement in der "Ecluse", einer Kleinkunstbühne in Paris. Der Wendepunkt ihrer Karriere ist markiert, als sie beginnt, eigene Lieder zu schreiben und vorzutragen. Ihre Chansons sind durch eigene Erfahrungen geprägt, werden geschätzt wegen ihrer atmosphärischen Dichte. Etwa in Nantes, einem ihrer größten Erfolge, in dem sie die Beziehung zu ihrem Vater aufarbeitet, den sie zehn Jahre nicht gesehen hat und der im Dezember 1959 stirbt.

Durch zahlreiche Konzerte und Tourneen wird sie rasch weltweit populär. Sie arbeitet als Schauspielerin für Theater und Film und pflegt Freundschaften mit Maurice Béjart, Jacques Brel sowie vor allem Gérad Depardieu. 

Als ihre Stimme nicht mehr mitmacht, zieht sie sich auf ihr Anwesen in Précy-sur-Marne zurück. Sie beginnt im Frühjahr 1997 mit dem Schreiben der Autobiografie: Vor mir liegt viel Arbeit, aber es ist eine Arbeit, die ich mag, und ich werde mich nicht beklagen. Ihre Aufzeichnungen bleiben unvollendet, denn bereits am 24. November reißt sie der Tod aus jedem Schaffensprozess. Ihre drei Geschwister, denen sie im Chanson Mon enfance eine unvergängliche Erinnerung geschaffen hat, entschließen sich nach langem Zögern und Zweifeln das Konvolut als Buch zu veröffentlichen: "Sollten diese Texte veröffentlicht werden, von denen wir wissen, dass sie sie unentwegt überarbeitet hätte, immer wieder korrigiert bis zum endgültigen Abgabetermin des Manuskripts im November 1998?"

2017 erscheint es endlich auch auf Deutsch. Es hat seinen besonderen Reiz im Unabgeschlossenen, teilweise Fragmentarischen, in der Unmittelbarkeit des soeben Geäußerten. Das Buch enthält ausgearbeitete Kapitel ebenso wie Passagen assoziativen Charakters, denen man anmerkt, dass sie Rohmaterial darstellen für die intensive Bearbeitung, für den Schliff. Naturgemäß ist ihnen zuweilen eine besondere Schärfe zu eigen, z. B. in der Beurteilung von Personen, an deren Bild sicher gefeilt worden, deren Profil verfeinert worden wäre. Allen LeserInnen bietet die Lektüre indessen dieser autobiografischen Aufzeichnungen genussreiche Stunden. Und für LiebhaberInnen des französischen Chansons ... ça s'impose, muss Alfons Huckebrink einräumen.

Die Biografieempfehlung des Monats März 2023

Anni Ernaux: Der Platz. Berlin: Suhrkamp 2019

 

Wenn man beim Lesen des Titels denkt, es gehe in diesem (auto)-biografischen Roman um einen bestimmten Ort, um einen Platz in (irgend)einer Metropole oder einer Kleinstadt, an dessen angrenzenden Gebäuden verschiedene Lebensfäden miteinander verflochten sind, täuscht man sich. Der Titel suggeriert beim Lesen ein Bild, was so einem Ort oder dessen Prototyp entspricht.

Erst nach der Lektüre mag sich ein Leser/eine Leserin dann fragen: „Warum heißt das Werk eigentlich so?“ Es geht Ernaux um den Platz in der Gesellschaft, der durch die soziale Schicht determiniert ist und für viele ein Ort ist, den sie nicht aus freiem Entschluss einfach so verlassen können. Schafft man es doch, dann ist die Entfremdung von den übrigen dieser Position Verhafteten, meist nahe Angehörige, die unweigerliche Konsequenz, der unvermeidbare Preis der Freiheit. So erging es der Autorin und Nobelpreisträgerin (2022) AE, die an einem solchen, so genannten bildungsfernen Ort aufwuchs.

Als der Vater stirbt, nimmt sie das zum Anlass, sein Leben zu erzählen. Um 1900 geboren, kaum Schulbildung, Bauer, sich dann zum Besitzer eines kleinen Ladens in der Normandie emporgearbeitet, bis zu seinem Tod 1967 fast nur Arbeit gekannt. Die älteste Tochter stirbt mit 7 Jahren an Diphterie, ein paar Jahre später wird AE geboren.

Sie versucht eine „objektive“ Biografie ihres Vaters zu schreiben. Dabei bezieht sie Quellen, Erinnerungen, mündliche Quellen in diese Vatergeschichte ein. Dabei seziert sie die Entfremdung, die in ihrer Beziehung zu ihrem Vater entstanden ist, die mit seinem Tod, der am Anfang und am Ende der Biografie Thema ist, endgültig wird und dem doch durch das Schreiben Anerkennung gezollt wird. AE kann die höhere Schule besuchen, und da beginnt die Entfremdung, auch als fortschreitende Geschichte. Sie studiert, wird Lehrerin, der Kontakt bricht mehr oder weniger ab. Der Schmerz, Scham oder Schuld, das Gefühl von Verrat an den Eltern und dem Herkunftsmilieu, auch Bedauern oder Mitgefühl bleibt zwischen den Zeilen erahnbar und dem Leser überlassen. Auch ein Urteil darüber, ob diese Entfremdung ein Naturgesetz ist, wie AE auf der Rückseite des Covers andeutet: Ans Licht holen, was ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste.  

Musste? Soziale Beziehungen, deren Nähe, Abstand und Hierarchieebenen, werden gerne als räumliche Metaphern beschrieben und verstehbar gemacht. Deshalb passt das Bild vom Platz, von dem man sich entfernen kann, um sich an einem anderen Ort aufzuhalten, jedoch (in der Konzeption AEs) nicht an beiden gleichzeitig. Diese autobiografisch geprägte Biografie der Nobelpreisträgerin ist unbedingt lesens- und empfehlenswert, findet Gudula Ritz.

Die Biografieempfehlung des Monats Februar 2023

Filip Müller: Sonderbehandlung. Meine Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz. Darmstadt: wbg Theiss 2022

 

Tue deinen Mund auf / für die Stummen / und für die Sache aller, / die verlassen sind.

(Salomo, Sprüche 31.8)

 

An jedem 27. Januar gedenkt die Welt der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee 1945. Passend zu diesem Datum stellen wir hier die Erinnerungen Filip Müllers vor, die 1979 erstmals erschienen sind und nun endlich in Neuauflage vorliegen.

Der slowakische Jude Filip Müller (1922-2013) wird 1942 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert und später nach Birkenau überstellt. Bis zum Januar 1945 ist er Häftling in einem der Sonderkommandos, die vom übrigen Lager isoliert leben und deren Arbeit vor allem in der Beseitigung von Leichen und dem Instandhalten der Vernichtungsanlagen besteht. Die nationalsozialistischen Täter verwendeten den Begriff 'Sonderbehandlung', um ihre wahre Absicht zu verschleiern und nicht öffentlich zu benennen. Wer durch die SS eine Sonderbehandlung erfuhr, wurde umgebracht.

Filip Müllers bewegendes Buch ist die erste in Deutschland veröffentlichte Erinnerungsschrift eines Augenzeugen gewesen, der den Alltag der Massenvernichtung in den Krematorien und Gaskammern in Auschwitz-Birkenau miterlebt hat. Der Autor gehört zu den wenigen Überlebenden der Sonderkommandos, denn als potentielle Zeugen der monströsen Verbrechen wurden sie nach und nach selektioniert und physisch beseitigt. Dem Tod bin ich durch glückliche Zufälle, eigentlich durch ein Wunder entronnen, spielt Müller seine Fähigkeit, durch Mut und Intelligenz schwierigste Situationen zu überstehen, herunter. Der Regisseur Claude Lanzmann, der ihn 1989 für seinen Film 'Shoah' interviewt, ist von ihm beeindruckt und auf die Frage eines Journalisten, ob er beim Drehen manchmal an seine Grenzen gekommen sei, erklärt er: "Ja, beim Gespräch mit Filip Müller, der als Mitglied des jüdischen Sonderkommandos [...] fünf Liquidationswellen überlebt hat. Einmal [...] sagte er zu mir: "Ich wollte leben, unbedingt leben, noch eine Minute, noch einen Tag, noch einen Monat länger. Begreifen Sie: leben." 

An ihre Grenzen werden möglicherweise auch LeserInnen von Sonderbehandlung geraten, denn in Müllers klaren und einfachen, fast nüchternen Sprache entsteht ein schonungsloses Protokoll des industriellen, fließbandartigen Ablaufs der hinterhältigen deutschen Massenvernichtung. Er schreibt in der Ich-Form und gewährt den LeserInnen Einblick in das Zentrum der Mordfabriken. Im Krematorium habe ich viel erlebt und Szenen gesehen, von denen die Welt niemals etwas hatte erfahren sollen. Was er mit seinem Bericht bezeugt, ist die Hölle selbst - ein Begriff, der hier ohne metaphorischen Zierat verwendet wird - und wirkt herzzerreißend.

Zumeist wurden die Deportierten unter dem Versprechen, sie erhielten ein Duschbad, in die Gaskammer gedrängt. Nachdem deren Tür verschlossen war, schütteten SS-Männer durch Öffnungen auf dem Dach Zyklon-B-Kristalle hinein.

 

Nun wurden die Motoren der Lastwagen angelassen. Ihr Lärm sollte verhindern, daß man im Lager das Geschrei der Sterbenden in der Gaskammer und ihr Pochen gegen die Türen hören konnte. [...] Es war, als wäre der Jüngste Tag angebrochen. Deutlich hörten wir herzzerreißendes Weinen, Hilferufe, Stoßgebete, heftiges Schlagen und Pochen gegen das Tor, und all das übertönt von dem Geräusch der auf Hochtouren laufenden Lastwagen. Aumeier, Grabner und Hössler verfolgten auf ihren Armbanduhren die Zeit, die verging, bis es in der Gaskammer still geworden war. Dabei amüsierten sie sich und rissen makabre Witze, Einen hörte ich sagen: "Das Wasser im Duschraum muß heute sehr heiß sein, weil sie so laut schreien."

 

Dem Problem, dass das Ausmaß der Leiden einer namenlosen Masse zur Abstraktion wird und nicht eindeutig erfasst werden kann, begegnet Müller damit, dass er ihre Stimmung wiedergibt, ihnen Gesichter und Stimmen verleiht. Ihm gelingt es zudem, mit Hilfe von Einzelschicksalen die 'Auslöschung' der Menschen durch einen anonymen massenhaften Mord zu durchbrechen.

Besonders bewegend sind die Schilderungen der Vernichtung des Familienlagers ab dem 8. März 1944, also der Juden, die aus dem Ghetto Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurden und dort eine Zeitlang, vom übrigen Lager abgetrennt, relativ unbehelligt leben konnten, sowie der Auslöschung der 400000 ungarischen Juden ab Mitte Mai 1944.

Einmal plant er seinen Selbstmord, indem er einem Transport seiner Landsleute in die Gaskammer folgt. Von einer jungen Frau wird er davon abgebracht. Sie macht ihm deutlich, dass sein Tod nutzlos wäre und er im Überlebensfall die Aufgabe hätte, sein Wissen über die unfassbaren Verbrechen an die Nachwelt weiterzugeben.

Filip Müllers Berichte werden nach der Befreiung, obwohl sie zunächst bei vielen auf Unglauben stoßen, stark beachtet und zu einem wichtigen Zeugnis. Seine Aussagen in Prozessen gegen die schlimmsten Massenmörder sind ausschlaggebend für manchen Schuldspruch. An der Buchform hat er 15 Jahre gearbeitet und noch einmal 7 Jahre an der deutschen Fassung. Nach der Erstveröffentlichung 1979 wurden er und seine Familie beschimpft und diffamiert, sahen sich mit Morddrohungen konfrontiert. In einer Zeit, da uns nur noch wenige Überlebende bleiben, die darüber erzählen können, und in der die Shoah zunehmend geleugnet oder relativiert wird, hält die Neuauflage des Buches unser Erinnern an die grauenvollen Geschehnisse lebendig und unverfälscht. Sie enthält auch einen informativen Anhang, der u.a. eine gut lesbare Einführung enthält sowie anschauliche Materialien in Form von Grundrissen und Fotos. Dazu Kurzbiografien von Häftlingen des Sonderkommandos, aber auch von Angehörigen der SS. Bei letzteren fällt auf, dass etliche der übelsten Verbrecher verurteilt wurden und am Galgen endeten, einige aber auch gänzlich ungeschoren davonkamen und bis ins hohe Alter ihre Pensionen und Renten genießen konnten.

Keine einfache Lektüre gewiss, aber eine überaus wichtige, meint Alfons Huckebrink. 

Die Biografieempfehlung des Monats Januar 2023

 

Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. Zürich: Unionsverlag 2022

 

Dieses einzigartige Werk von Marina Clavadetscher besticht durch seine Sammlung höchst ungewöhnlicher Biografien. Dabei werden fiktiv, aber gut recherchiert, die Lebensläufe weiblicher Modelle berühmter Künstler sowie zweier Künstlerinnen vorgestellt. Die Modelle erhalten in den autofiktionalen Monologen von Martina Clavadetscher eine Stimme, einen Namen und werden somit noch einmal ins Licht des Betrachters, der diesmal auch zum Leser wird, gerückt. Somit werden den "Objekten" einer doppelten Betrachtung Subjektivität und Würde zurückgegeben. Es sind überwiegend Männer, die mit ihren Werken Berühmtheit und Bewunderung als Künstler erlangt haben, während die weiblichen Modelle in dieser Hinsicht ein Schattendasein führen, da sie – zumindest in diesem Zusammenhang - lediglich Objekte sind. Vielleicht ist die Jeune orpheline au cimetière von Eugène Delacroix (1824) eine Ausnahme, denn durch das Angebot des Künstlers erhält Mélie ein (bescheidenes) Honorar und findet Respekt und ihren Lebenswillen wieder, so wird die Beziehung zwischen Künstler und Modell jedenfalls aus ihrer (personalen) Perspektive geschildert. Von Leonardo da Vinci, Raffael, Rembrandt, Courbet, bis hin zu Munch und Hodler werden berühmte Gemälde, darunter -besonders reizvoll - ein Selbstportrait von Angelika Kauffmann (1741-1807), vorgestellt und neben den inneren Monologen die Modelle als Personen und Subjekte vorgestellt. Ganz nebenbei erfährt der Leser auch einiges über ihre mitunter problematische Beziehung zu den Malerpersönlichkeiten, über die Zeit und die gesellschaftlichen Bedingungen während der Schaffensphasen. Dieses einzigartige und informative Werk eignet sich auch nach Weihnachten noch als wertvolles Geschenk, kann aber das ganze Jahr über auch selbst gelesen und wiedergelesen werden, empfiehlt Gudula Ritz.

Die Biografieempfehlung des Monats Oktober 2022

Christoph Ribbat: Wie die Queen. Die deutsch jüdische Geschichte einer sehr britischen Schriftstellerin. Berlin: Insel Verlag 2022

 

Diese sehr gut recherchierte Biografie rückt mit Ilse Barker (IB) eine bisher unentdeckte und wenig bekannte Schriftstellerin ins Licht, auf die der Biograf, ein Anglist, zufällig bei seinen Arbeiten zur anerkannten und von ihm sehr geschätzten Lyrikerin Elisabeth Bishop gestoßen ist. Der Briefwechsel zwischen den beiden Schriftstellerinnen ist insofern einzigartig, weil es die einzige Brieffreundschaft von E. Bishop war, die zusätzlich zu gemeinsamen Interessen sehr persönlich und privat war. Dank des einzigen Sohnes von Ilse Barker, Thomas Barker, und weiterer Unterstützer*innen, z.B. aus dem Arbeitskreis „Jüdisches Bingen“, entstand diese besondere Biografie. Thomas Barker verfügte über autobiografische Texte und nicht veröffentlichte Schriften von IB.

Offenbar war es dem Autor ein Bedürfnis, diese unbekannte Lebensgeschichte zu würdigen und öffentlich zu machen. Dies zeigt schon der Titel „Wie die Queen“, wobei sich die Leser vermutlich genau wie ich fragen: Was hatte diese deutsche Jüdin mit der kürzlich verstorbenen Queen gemeinsam? Vielleicht die Zurückhaltung, wenn man sie denn bei der Queen of England entdecken konnte? Vielleicht die kontrollierten Gefühle, die Selbstbeherrschung? Was war britisch an Ilse Groß alias Katherine Talbot? Dass sie in englischer Sprache dichtete und schrieb und nicht in ihrer Muttersprache? Christoph Ribbat verwendet die autobiografischen Texte, befragt Zeitzeugen und Freund*innen von Ilse Barker. Die fiktionalen Texte behandelt er als solche und nicht als autobiografisches Material.

Die beiden ersten Kapitel beschreiben Stationen der Flucht und Vertreibung, beispielhaft für frühere und später folgende Situationen im Leben von Ilse Groß. Sie wird als neunzehnjähriges Hausmädchen in England deportiert, da sie Deutsche und somit verdächtig ist, das ist die Einstiegsszene. Auf der Isle of Man kommt sie in ein Lager, in dem auch Nazi-Frauen untergebracht sind. Die Ausbeutung von englischen Hausmädchen jüdisch-deutscher Herkunft ist in England gang und gäbe. Auch antisemitische Hetze durch rechte Gruppierungen. Das Hausmädchen beschließt, Schriftstellerin zu werden und über ihre Erlebnisse zu schreiben. Sie schreibt ein Leben lang, es gelingt ihr aber kaum, über das Leid zu schreiben, was sprachlos macht. Geboren 1921 als Tochter eines Bingener Winzers und Weinhändlers wird sie dreizehnjährig in verschiedenen Schweizer Internaten, zuletzt in Genf, untergebracht, weil sie nach antisemitischen Anfeindungen ihrer Lehrer*innen einen Zusammenbruch erlebt und das Gymnasium nicht mehr besuchen will. Die Eltern geben ihr eine Reiseschreibmaschine mit, das Schreiben hilft ihr, mit der Trennung und dem Gefühl der Heimatlosigkeit umzugehen. Sie leidet in der Schweiz unter Heimweh und gehört als siebzehnjährige zu den „Verschickungskindern“, die England aufnimmt, weil ihnen Nazi-Deutschland gefährlich nahekommt. Erwachsene Flüchtlinge sind in GB nicht so gerne gesehen. Ihre Eltern nachzuholen, das ist Ilses Plan, der aber wegen des Kriegseintritts Englands knapp misslingt. Lange haben die Eltern mit der Flucht gezögert, denn sie wollen Ilses behinderte Schwester, die in einem Heim versorgt wird, nicht alleine in Nazi-Deutschland zurücklassen. Alle drei Familienmitglieder Ilses werden von den Nazis ermordet, ihre Geschichten erfährt sie erst in den sechziger Jahren durch den Kontakt mit dem Arbeitskreis „Jüdisches Bingen“. Es gelingt ihr kaum, über ihre Erlebnisse zu schreiben, sie hat offenbar keine Sprache dafür. Deshalb schreibt sie Fiktion, die sich an zeitgenössischen Autoren wie James oder Fitzgerald orientiert. Christoph Ribbat benutzt eine sehr einfache Sprache, denn offenbar ist das Erlittene nicht in Worte zu fassen, vieles verbleibt zwischen den Zeilen und dem mitfühlenden Leser ist es überlassen, das Ungesagte zu erspüren: Ilses frühe Heirat und Scheidung, ihre Ehe mit dem Maler Kit Barker, hinter dessen Karriere sie zurücktritt, den sie zeitlebens unterstützt, ihre späten erfolglosen Versuche, ihre Werke bei Verlagen unterzubringen, ihr entbehrungsreiches und arbeitsames Leben. Allerdings hat sie mit einigen Werken doch Erfolg, der aber leider nicht anhält. Sie erhält gemeinsam mit ihrem Mann zwei längere Aufenthalts-Stipendien in einem Künstlerdorf in den USA, woraus einige Veröffentlichungen, beispielsweise bei Faber & Faber resultieren. Wie ist Authentizität angesichts des persönlichen Leids möglich?, mag sich mancher Leser fragen. Gudula Ritz empfiehlt diese Biografie unbedingt zur Lektüre.

Die Biografieempfehlung des Monats September 2022

María Hesse: Marilyn Monroe. Eine Biografie. Berlin: Insel Verlag 2022

 

Diese Biografie wurde von der spanischen Grafikerin und Autorin María Hesse, deren Arbeit zu Frida Kahlo wir im September 2018 vorgestellt haben, als Grafic Novel und fiktive Autobiografie gestaltet. Die Grafiken sind zurückhaltend gestaltet, wenige Formen sind zu erkennen, mit sparsamer Farbgebung, fast plakativ, und trotzdem lassen sich die Personen als individuelle Personen sehr gut erkennen, z.B. Arthur Miller, Clark Gable.

MM wurde 1926 als Norma Jean Baker in Los Angeles geboren. Sie war zwar keine Waise, aber ihre psychisch instabile Mutter war über längere Zeiträume nicht in der Lage, für sie zu sorgen. So wuchs sie in Waisenhäusern und Pflegefamilien auf und es fehlte wohl das, was für die Entstehung von (Selbst-) Vertrauen so grundlegend ist: die Verlässlichkeit ihrer wichtigsten Bezugsperson. Ihren Vater hat MM nie kennengelernt.

Hesses Illustrationen sind sehr ansprechend und stehen in Harmonie mit dem in einfacher Sprache verfassten inneren Monolog MMs, in dem sie ihre Lebensgeschichte erzählt. Dadurch wird eine Echtheit und Individualität erreicht, die dem lebenslangen Bestreben MMs gerecht wird, sie selbst sein zu wollen und nicht nur ein erfolgreiches Marketing Produkt: das Sex-Symbol, das Dummchen, die Blondine, die Ikone, das Objekt.

Mit 16 Jahren wird sie von ihrer Tante Grace nach sexuellen Belästigungen durch deren Ehemann in eine glücklose Ehe gedrängt – denn ihre Tante will sie nicht bei sich behalten und durch die Heirat mit ihrem Jugendfreund kann sie einem weiteren Waisenhaus-Aufenthalt entgehen. Sie arbeitet später in einer Munitionsfabrik, während ihr Mann als Soldat im 2. Weltkrieg dient.

MM gibt viel Geld für Bücher, Schreib- und Schauspielunterricht aus, ist lernbegierig und sehr ambitioniert. Sie will eine gute Schauspielerin werden und bedauert, nicht länger zur Schule gegangen zu sein. Nach ihrem Tod findet sich eine umfangreiche Bibliothek vor. Sie schreibt eigene Texte und Gedichte.

Es folgen Scheidung und einige weitere Ehen und Scheidungen. In der Munitionsfabrik werden die ersten Fotoaufnahmen gemacht und es folgt eine Zeit mit nebenberuflicher Tätigkeit als Model, in der sie mehr und mehr zu jener MM (gemacht) wird, wie die Welt sie kennt. Ihr Vertrag bei der Filmproduktionsfirma Fox ist schlecht dotiert - trotz guter Erfolge als Schauspielerin. Später zieht sie nach New York um, wo sie eine Psychoanalyse beginnt, angeregt durch das „Actors Studio“ von Lee und Paula Strassberg, deren biografischer Ansatz heute als systemisch oder tiefenpsychologisch bezeichnet werden würde. Diese Zeit ist für MM sehr lehrreich, aber auch sehr belastend, was einleuchtend ist, wenn man sich die Verletzungen und die geringen Ressourcen ihrer Kindheit vor Augen führt. Auch spätere Psychoanalysen wirkten sich eher destabilisierend aus. Mit dem Fotografen Milton Green gründet sie eine eigene Produktionsfirma, um besser zu verdienen, aber auch, um von der Rollenfestlegung als Glamourgirl wegzukommen. Ihr persönlicher Wunsch wird deutlich, auf Augenhöhe und als ernst zu nehmende Person und Frau gesehen zu werden. Schließlich glaubt sie diese Wertschätzung durch ihre Ehe mit dem Schriftsteller Arthur Miller zu erfahren, den sie sehr bewundert.

Diese Ehe konfrontiert sie mit der traditionellen Rolle als Frau und Mutter - sie erleidet mehrere Fehlgeburten und kehrt schließlich zu Fox zurück, nachdem man ihr einen sehr gut bezahlten Vertrag angeboten hat. Die Ehe und die Rückkehr zu Fox katapultieren MM zurück in eine persönlich als „Hölle“ beschriebene Situation. Arthur Miller bearbeitet alle ihre Drehbücher, teilweise sehr kurzfristig – überwiegend mit persönlichen Aussagen aus ihrer Ehe und ihrem Leben, die sie sehr verunsichern. Dies ist sehr belastend und stellt sicherlich nicht die Wertschätzung für ihre Person da, von der sie ein Leben lang geträumt hat. Sie wird von ihren Managern mit Barbituraten versorgt, um besser zu schlafen, sowie mit Amphetaminen, um arbeitsfähig zu sein. Über die Konsequenzen weiß man damals wenig, jedenfalls wird sich MM sehr spät bewusst, dass sie etwas dagegen unternehmen sollte. Auch ihr letzter Psychoanalytiker benutzt sie für Eigenwerbung und erzielt nicht die heilende Wirkung, die seinem Auftrag entspräche. Die Zuschreibungen der Öffentlichkeit, z.B. eine vermeintliche Affäre mit John F. Kennedy, setzen sie zunehmend unter Druck.

Das Ende dieser Tragödie ist bekannt – zeichnet sich im fiktiv autobiografischen Monolog jedoch nicht ab, im Gegenteil. MM will leben, will ihr Leben ändern, wünscht sich Wertschätzung und Anerkennung als Person und vor allem, eine erfolgreiche und ernst zu nehmende Schauspielerin zu werden und glücklich zu leben. Vor allem Letzteres erfüllte sich, wie wir alle wissen, nicht. Diese einfühlsame Biografie, verfasst in autobiografischer Perspektive, empfiehlt Gudula Ritz.

Die Biografieempfehlung des Monats August 2022

Paul Auster: In Flammen. Leben und Werk von Stephen Crane. Hamburg: Rowohlt Verlag 2022

 

Der Himmel war blank und blau und schmerzte wie Messing.

 

In Flammen: 1154 Seiten – ohne den umfangreichen Apparat darin zu berücksichtigen – für ein knapp 29 Jahre währendes Leben. Angenommen werden darf, dass Paul Auster, Autor dieser atemberaubenden Biografie über den nordamerikanischen Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), von seinem biografischen Objekt selbst entflammt sein muss. Davon macht er indessen von Beginn an keinen Hehl, spricht von Crane, der sich in seinem Schreiben um so gut wie keine der überkommenen Traditionen scherte, für seine Zeit so radikal, dass man ihn heute als den ersten amerikanischen Vertreter der Moderne betrachten kann, in höchsten Tönen, formuliert im Ausdruck größter Hochachtung, versetzt ihn in die Reihe früh vollendeter Genies wie John Keats, Percy B. Shelley, Franz Schubert und Wolfgang A. Mozart. Im Unterschied zu diesen, scheine Crane heute nicht gerade vergessen zu sein, aber seine Bücher befänden sich nur noch in den Händen von Spezialisten, fortgeschrittenen Literaturstudenten, Doktoranden und Lehrstuhlinhabern … Nichts gegen fortgeschrittene Literaturstudenten, möchte man meinen, aber gerade dieser Umstand, bekennt Auster, sei für ihn ausschlaggebend gewesen, diese außerordentliche Biografie, die völlig zu Recht mit Leben und Werk von Stephen Crane untertitelt ist, in Arbeit zu nehmen. Ich selbst räume gern ein, dass ich auf Stephen Crane erst anlässlich eines Besuches in Badenweiler im vorigen Frühherbst wirklich aufmerksam geworden bin. Dortselbst traf er am 28. Mai 1900 im Endstadium seiner Tuberkulose-Erkrankung ein und verschied am 05. Juni. Der Schriftsteller Henry James kommentiert die Nachricht von Cranes Tod mit den Worten: Was für ein grausames, sinnloses Erlöschen – was für eine ungeheuerliche, furchtbare Katastrophe! Wenn ich an sein Talent und seine Möglichkeiten denke!

Dieser Gedanke bewegt auch Auster in seiner Betrachtung, in der er umfangreich und mit ausführlichen Zitaten belegt in das Werk und die in ihm sichtbar werdende Entwicklung Cranes zum Schriftsteller einführt. Einer, der die erstarrten Konventionen zeitgenössischen Literaturschaffens sprengt, Türen öffnet, - etwa für Hemingway, der ihn zeitlebens bewundert, - und neue Maßstäbe setzt auf dem Weg in eine amerikanische Moderne. Auster geizt nicht mit Bewertungen und Kommentaren, z.B., wenn er das Zitat oben aus der Erzählung Marines signaling under fire at Guantanamo als vielleicht besten Satz in Cranes Gesamtwerk hervorhebt. Er steht im Bann dieses Schriftstellers und bei einem Autor der Güte Austers kann dieses Entflammt sein, das bei jemand anderem vielleicht zu hagiografischem Erlöschen geführt hätte, sich nur positiv auf den Text auswirken. Ihm gelingt es, Crane mit Leben und Werk auf originelle Weise in die Zeitumstände des ausgehenden 19. Jahrhunderts einzubinden, etwa wenn er anfangs über eine ganze Seite Neuheiten auflistet, die in Cranes Lebenszeit „zur Welt kamen“: die Melkmaschine, Coca-Cola, der Geschirrspüler, Röntgen, Basketball, der Comicstrip usw. Die Leser:innen erhalten eine profunde Einführung in Cranes Werk mit klaren, nachvollziehbaren Bewertungen. Am Ende beruht Cranes Ruhm auf sechs Werken Maggie, The Red Badge of Courage, The Open Boat, The Monster, The Bride Comes to Yellow Sky und The Blue Hotel. Die Hälfte davon entstand im ersten Jahr ihres Zusammenlebens.

Der letzte Satz spielt an auf seine Beziehung zu Cora Crane, seine letzte Partnerin, die er in Jacksonville kennen lernte, als er Schiffbruch erlitt mit der Commodore, beim ersten Versuch als Kriegskorrespondent nach Kuba zu gelangen. Es war das einschneidendste Erlebnis seines Lebens, und es veränderte nicht nur ihn, sondern auch seine Arbeit. Die Erzählung, die er darüber schrieb (The Open Boat), markiert einen Wendepunkt in seiner Entwicklung als Schriftsteller, und wenn er nicht gerade zur Tilgung seiner Schulden oder als Kriegskorrespondent arbeiten musste, verfolgte Crane von nun an den neuen Weg, der sich ihm aufgetan hatte. Weiß der Himmel, wie weit er gekommen wäre, wenn er länger gelebt hätte.

Die Wechselfälle von Cranes kurzem intensivem Leben werden von Auster umfassend dargestellt und mit Zitaten aus verschiedenen zeitgenössischen Quellen allseitig beleuchtet: sein Konflikt mit der New Yorker Polizei und ihrem damaligen Chef Theodore Roosevelt, als er für eine von Polizeiwillkür betroffene Prostituierte aussagt; seine abenteuerliche Tätigkeit als Korrespondent im Spanisch-Amerikanischen und im Griechisch-Türkischen Krieg; seine Freundschaft zu Joseph Conrad; seine mitunter skandalösen Liebesaffären; seine andauernd prekären finanziellen Verhältnisse …

All dies macht Austers Biografie zu einer spannenden, anregenden Lektüre, die wiederum Lust erweckt, sich Cranes Werken selbst zu widmen. Eine Eingebung, deren Verwirklichung wenig im Wege steht. Und Besseres lässt sich über eine Lebens- und Werkebeschreibung wohl nicht sagen, weiß Alfons Huckebrink.   

Die Biografieempfehlung des Monats Juli 2022

Maria Herreros: Georgia O`Keeffe, Art Masters, eine Grafic Novel. London: selfmadehero 2022

 

Diese Künstlerinnen-Biografie über Georgia O`Keeffe (1887-1986) wurde von der Designerin Maria Herreros als Grafic Novel ausgeführt und stellt selbst ein Kunstwerk dar.

Georgia O`Keeffe (GOK) wuchs als zweites von sieben Kindern auf einer Milchfarm in Wisconsin, USA, auf. Sie wurde sowohl von ihrer Mutter als auch später in der Schule künstlerisch gefördert und ausgebildet. Sie arbeitete als Kunstlehrerin an einem College in Texas. Im Sommer 1915, als GOK die Ferien in ihrem Heimatort verbringt, setzt die Grafic Novel ein. Sie zitiert aus Briefen an Georgias Freundin Anita und verdeutlicht somit schnell den Einstieg in die künstlerische Karriere verdeutlicht. Die Briefe enthüllen vor allem ihr philosophisches Denken, ihre Faszination für Formen und originelle Ideen, die insbesondere von Orten und der Natur inspiriert sind.

Anita Pollitzer, die die Verbindung zu New York und der modernen Kunstszene hält, überbringt schließlich eine Auswahl von Zeichnungen GOKs an den Galeristen Alfred Stieglitz in New York, der von diesen beeindruckt ist, ihre Werke ausstellt. Es entwickelt sich eine zweijährige Brieffreundschaft, später eine Liebesbeziehung und lebenslange Partnerschaft. Nachdem er sie überzeugt hat, nach New York zu kommen, stellt er sie als Modell für seine Foto-Kunst an, so dass sie, finanziell unabhängig, sich ganz ihrer eigenen Kunst (und Alfred) widmen kann.

Der Vorteil einer Grafic Novel ist ihre Kürze; mit wenigen Zitaten und dem Subtext zu den Grafiken wird vieles ausgedrückt, was in einer Beschreibung mehr Raum benötigt hätte. Still Anita, I don`t see why we ever think of what others think of what we do. Die Entwicklung zur inneren Unabhängigkeit von den Bewertungen anderer, verbunden mit dem nachdrücklichen Vertreten eines eigenen Standpunktes – vor allem gegenüber der männlich dominierten Kunst-Welt, macht einen wichtigen Pfeiler ihres künstlerischen Erfolges aus.

Sie widersetzt sich freudianischen, aber auch sexistischen Interpretationen Alfreds.

You write about my flower as if I think and see what you think and see the flower…. and I don`t.

Sie wird rasch erfolgreich und kann von ihrer Kunst leben. Über New York schreibt sie: „They have no time to look at a flower.- But I`ll look more“. Sie reist viel, arbeitet an jedem Ort, an dem sie sich befindet, sehnt sich aber nach Ruhe und einer natürlichen Umgebung. Insbesondere Aufenthalte in New Mexico, wo sie sich auf verlassenen Farmen einmietet, erlebt sie als extrem inspirierend. Persönliche Enttäuschungen durch Alfred führen zu einer zweijährigen persönlichen und künstlerischen Krise.

Sie kauft später die Ghost Ranch, wo sie bis an ihr Lebensende mit 97 Jahren vorwiegend alleine, lebt. It is something in the air, alles sei besonders: das Licht, der Wind, der Himmel, die Sterne, schreibt sie an Alfred, der New York bevorzugt. Sie erwandert ihre Umgebung, campt in freier Natur.

Das Neue, was GOK in die Kunst eingebracht hat, ist die Gleichzeitigkeit von abstrakter und realistischer Darstellung natürlicher Formen und Elemente. Sie will ausdrücken, wie sie selbst ihre Objekte erspürt und wahrnimmt. Die Blüten - Gemälde, für die sie berühmt ist, sind im Detail vereinfacht, aber sehr ausdrucksvoll in der Form, abstrakte Ölbilder mit vegetatiblen organischen Formen. Es sind Bilder, die fast eine suggestive Wirkung haben, mit sehr sinnlichen Formen, die teilweise von Betrachtern als erotische Formen wahrgenommen wurden.

1945 stirbt ihr Partner Alfred, ein schwerer Schlag für sie, anschließend kehrt sie New York für immer den Rücken. Sie bereist die Welt, zeitweise mit einem viel jüngeren Bildhauer, schafft mit seiner Hilfe einige überdimensionale Skulpturen, widersetzt sich prominenten Versuchen, sie zum Katholizismus zu bekehren. Um frei zu sein, war ihr jede Mühsal, jedes Risiko recht. I`ve been absolutely terrified every moment of my life. And I never let it keep me from doing a single thing I wanted to do. GOK ist schon zu ihren Lebzeiten eine bekannte und berühmte Künstlerin vor allem in Amerika gewesen und ist es bis heute. Deshalb sei diese Lebensgeschichte für jede*n, der*die Freiheit, Natur und Kunst liebt, sehr bedeutsam, meint Gudula Ritz.

Die Biografieempfehlung des Monats Juni 2022

Irvin D. Yalom: Wie man wird, was man ist. Memoiren eines Psychotherapeuten. Berlin: btb 2017

 

Irvin Yalom, Mediziner, Psychotherapeut und Begründer der Existentiellen Psychotherapie, emeritierter Professor der Stanford Universität, hat nicht nur zahlreiche Bücher für seine Fachkollegen geschrieben, sondern ist zudem begeisterter und begeisternder Schriftsteller für eine breite Leserschaft. Philosophische Themen stehen im Mittelpunkt seines Werkes, das sich an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaft verortet. Insbesondere nimmt es die persönliche und therapeutische Beschäftigung mit Sterben und Tod in den Blick, aus der sich in Anlehnung an Epikur und die Philosophen der Renaissance eine Philosophie der guten Lebensführung ergibt, ferner die Entwicklung der Methode der Gruppen- sowie eine auf einer offenen Beziehung basierenden Einzeltherapie. Aus eigener Erfahrung während seiner psychiatrischen Ausbildung in den 50er Jahren empfand Y. die Psychoanalyse als wenig hilfreich und änderte das Beziehungskonzept für seine eigenen Patienten dahingehend, dass vor allem Qualitätsmerkmale wie Empathie, Wertschätzung, Echtheit und professionelle Selbsteinbringung eine Rolle spielen.

Yalom wuchs als Kind russisch - jüdischer Einwanderer unter zunächst schwierigen Bedingungen in Washington DC auf, wo seine Eltern mit einem Lebensmittelgeschäft ihre neue Existenz aufbauten. Zunächst wohnte die Familie unter prekären Bedingungen direkt über diesem Laden; später kaufte seine Mutter ein Haus in einer ruhigen Gegend. Als Kind und Jugendlicher war Y. aufgrund des ökonomischen Existenzkampfes seiner Eltern zumeist sich selbst überlassen, seine Schwester war sieben Jahre älter als er, er litt unter Einsamkeit und Minderwertigkeitsgefühlen. Er hatte wenige soziale Beziehungen und war von einem extremen Leistungswillen und schulischem Fleiß erfüllt, der schließlich dazu führte, dass er zunächst in Washington, später in Boston die Zulassung zum Medizin-Studium erhielt. Seine Assistenzzeit verbrachte er an der John-Hopkins-Universität. Schon während dieser Zeit heiratete er seine Jugendliebe Marilyn und gründete eine Familie. Nach seiner Wehrdienstzeit auf Hawaii erhielt Y. eine Professur an der Stanford-Universität, wo er bis zu seinem Ruhestand 1994 lehrte. Mit zunächst drei, später vier Kindern unternahm das Ehepaar zahlreiche Reisen, dazu kamen berufliche Auslandsaufenthalte in London, Paris, Athen. Seine Frau, eine frankophile Romanistin und Literaturwissenschaftlerin, teilte seine Leidenschaft zum Schreiben und wurde Professorin im Bereich Kultur- und Geisteswissenschaften. Sie lehrte später ebenfalls an der Standford Universität und profilierte sich als Expertin feministischer Themen und Forschungen.

Es sind überreiche und inspirierende Memoiren, weil die abwechslungsreiche Lebensgeschichte wertvolle Einblicke in die 50er und 60er Jahre bieten und natürlich in die darauffolgenden Jahre, an die die meisten Leser sich bewusst erinnern können. Seine Memoiren zeichnen sich durch seine typische innere Haltung von großer Offenheit aus, er lässt die Leser:innen an der Entwicklung seiner Buch-Ideen teilhaben und widmet den zweiten Teil vor allem seiner beruflichen Veröffentlichungen. Y. ist ein Suchender, agnostischer Jude, areligiös, aber nicht antireligiös, ein wertvoller Zeitzeuge und ein Modell für andere, die sich selbst ein Leben lang auf der Spur bleiben wollen. Deshalb seien die Memoiren von Y. nicht nur dem Fachpublikum empfohlen, meint Gudula Ritz. Y. wird in diesem Monat 91 Jahre alt und ist immer noch psychotherapeutisch tätig. Seine Frau verstarb, wie man bei wiki nachlesen kann, im Jahr 2019.

Die Biografieempfehlung des Monats Mai 2022

Volker Reinhardt: Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. München: C.H. Beck 2022

 

Diese Biografie von Volker Reinhardt bringt uns das Leben, Denken und Schaffen einer Persönlichkeit, die wesentlich zur Entwicklung der Moderne beigetragen hat, auf beeindruckend recherchierte, historisch plausible und stilistisch einzigartige Weise nahe. Dabei bewegt sich der Biograf im Spannungsfeld zwischen wertfreiem Überblick, Herausstellung persönlicher Verdienste und empathischer Übernahme der Perspektive seines Helden, kritischen Hinterfragens desselben bis hin zur gelegentlichen Verwendung historisch überlieferter Sprachmuster aus den arrivierten Kreisen des 18. Jahrhunderts. All dieses macht die Lektüre des über 500 Seiten starken Werkes zu einem bereichernden und lehrreichen Genuss.

Voltaire, wie er sich später selbst genannt hat, wurde als François-Marie Arouet in Paris als Sohn eines Juristen im Jahr 1694 geboren. Nicht nur mit seinem Namen, auch mit seiner Herkunft spielte er, denn er schrieb sich einen anderen als seinen offiziellen Vater zu und änderte sein amtliches Geburtsdatum, indem er es um 9 Monate vorverlegte. Seine Mutter starb, als „Voltaire“ sieben Jahre alt war. Die Wechselfälle der Lebensgeschichte sowie das fast unüberschaubare Werk des Philosophen werden in ihrer historischen, biografischen und aktuellen Bedeutung dem Leser nahegebracht.

Sein Leben lang reizten Voltaire die bestehenden absolutistischen Verhältnisse zum Widerspruch, zur Enttarnung, zum Spott und zur Satire, was ihm als junger Mann 11 Monate Haft in der Bastille, später Verfolgung und Flucht, Camouflage und Verleugnung (viele Werke erschienen unter Pseudonym) einbrachte. Mit zunehmendem Alter wurde sein Handeln zusehends strategischer; so konnte er zeitweise mit gegensätzlichen Positionen spielen, um seine eigentlichen Botschaften, die die Menschenwürde propagierten und der Aufklärung dienten, zu verbreiten. Nach Annäherung an den Hof des jungen Ludwig XV. erlitt er einen gewaltsamen Angriff durch einen adeligen Konkurrenten, der ihn verbal herabsetzte, später verprügeln ließ; schließlich landete er nach einem ungerechten Urteil der Ständejustiz erneut in der Bastille. Nach Entlassung ging er für einige Jahre nach England ins Exil, begeisterte sich für Shakespeare und das aufgeklärte "moderne" Leben in London und schrieb erste politisch-philosophische Essays. Eine zufriedenstellende und produktive Zeit war die mit seiner klugen Lebensgefährtin Emilie du Châtelet, einer bedeutenden Physikerin und Mathematikerin, in ihrem Schloss in Cirey. Nachdem diese verstorben war, ließ er sich von Friedrich II. an den Preußischen Hof locken, der eine jahrelange Korrespondenz mit V. pflegte, als aufgeklärter und kulturell aktiver Monarch gelten wollte, sich später als rücksichtsloser Kriegsherr entpuppte und hierdurch V.`s Kritik erntete.

V. passt als Freigeist nicht nachhaltig in den Hofstaat ebenso handverlesener wie handzahmer Intellektueller und wird während seiner Rückreise aus Potsdam in Frankfurt auf Befehl des Preußenkönigs rechtswidrig kurzfristig festgesetzt. Mit Madame Denis, seiner Nichte, lebt er anschließend im calvinistisch regierten Genf, um vor französischer Verfolgung sicher zu sein. In Genf, der Heimat Rousseaus, seines stärksten Konkurrenten, der ihn offenbar aus Eitelkeit an die Grenze der von ihm geforderten Toleranz bringt, ist man V auch nicht durchweg wohlgesonnen, weshalb er vier Landhäuser nahe des Genfer Sees in drei Ländern, alle eine Tagesreise entfernt, kauft. Diese dienen als mögliche Refugien, aber auch als „Burgen, auf denen er den Kampf für die Aufklärung“ (S. 419) und gegen den vor allem religiösen Fanatismus führen kann. Er ist durch kluge Investitionen und später auch durch seine Veröffentlichungen zu kontinuierlich wachsendem Wohlstand gelangt und unterscheidet sich dadurch wesentlich von Rousseau, der Armut predigt. Nach Genf ist später das französische Ferney sein bevorzugter Arbeitsort.

Einen Überblick über die Fülle von V.‘s einzigartigem Werk bieten zu wollen, wäre hier vermessen. 50 Theaterstücke, ein Wörterbuch, das keines ist, Rührstücke, Auftragsarbeiten, Komödien, die Universalgeschichte, Biografien, investigative Reportagen, v.a. über Justizirrtümer und Justizmorde, u.v.m. Die beliebte Novelle „Candide“ wird in der Bearbeitung von L. Bernstein als Operette bis in die heutige Zeit inszeniert, sein Traktat über die Toleranz erlebte zu V.‘s Lebzeiten bereits erhebliche Verbreitung und wurde zuletzt nach dem islamistischen Anschlag auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" 2015 wieder populär und verbreitet. Er hinterfragt Entwürfe von Ideologien und „besten Staaten“, die immer nur vorläufig sein können und überdacht werden müssen. V. wird trotz kränklicher Gesundheit über 80 Jahre alt und erhält später einen Ehrenplatz im Pariser Pantheon. Es ist erstaunlich, dass diese Fülle und Komplexität einer schillernden Persönlichkeit wie V., ihrer Geschichte und ihrer Gedankenwelt durch den Biografen Volker Reinhardt mit Leichtigkeit und auf für jeden Interessierten spannende und verständliche Weise dargestellt werden, findet Gudula Ritz.

Die Biografieempfehlung des Monats April 2022

Alexander Heflik: Erwin Kostedde. Deutschlands erster schwarzer Nationalspieler. Bielefeld: Verlag Die Werkstatt.2021

 

Einen Nigger haben sie jetzt auch noch, die Deutschen.

 

Der böse Satz eines deutschen Hotelgasts fällt am 12. März 1975 bei der Abfahrt der Fußball-Nationalmannschaft zum Länderspiel gegen England in Wembley. Er ist auf den fassungslosen Erwin Kostedde gemünzt, den ersten schwarzen Spieler im deutschen Team. Es ist sein zweiter von drei Einsätzen im Nationaltrikot und Kostedde wird in der 75. Minute durch Jupp Heynckes ersetzt. Er ist 28 Jahre alt und hat bereits als 14jähriger davon geträumt, das Trikot zu tragen. Wenn er davon erzählt hat, ist er ausgelacht worden.

Wer wissen möchte, wie Rassismus im Alltag und im Alltag des Fußballsports funktioniert - ich entscheide mich bewusst dagegen, hier das Perfekt zu verwenden -, dem sei diese eindrückliche Lebensbeschreibung ans Herz gelegt. Nach seinem Debüt gegen Malta am 22.12.1974 in La Valetta versteigt sich das Hamburger Abendblatt zu folgender Formulierung: Es war einmal ein kleiner Mohr. Zwei Tage vor Heiligabend bereits wurde er beschert und sein Wunschtraum ging in Erfüllung. Der Mohr wurde Nationalspieler. Im Match gegen England vor 100000 Zuschauern kann er seine Qualitäten nicht abrufen. Sein Spiel hängt in der Luft. Er fühlt sich wie ein Versager, dem Druck hat er nicht standhalten können. Nur, wer hätte das an seiner Stelle, mit seiner Hautfarbe gekonnt?, konstatiert Alexander Heflik.

Kostedde wird am 21.Mai 1946 als Sohn eines amerikanischen GI's geboren. Sein Vater wird ihm immer unbekannt bleiben, seine Mutter Maria weigert sich, über ihn zu sprechen. Seine Kindheit in Münster ist geprägt vom allgegenwärtigen Rassismus. In der Margaretenschule wird er gehänselt. Ich habe das mit meiner Hautfarbe einfach nicht verstanden.[...] Die haben mir gesagt, du musst dich mehr waschen, eine Stunde lang mit Kernseife. Aber ich wurde nicht heller. Es folgen Aufenthalte in verschiedenen Heimen, zusammen mit halben Verbrechern. Wenn seine Mutter Besuch bekommt, tun die Gäste überrascht: Wo habt ihr den denn gekauft? Anerkennung findet er auf dem Fußballplatz. Ein Polizist beobachtet ihn beim Straßenkick und schenkt ihm die ersten Fußballschuhe. Beim TuS Saxonia, für den auch der Rezensent vor Jahren einmal seine Stiefel geschnürt hat, wird er für die A-Jugend des SC Preußen Münster entdeckt. Seine besten Jahre erlebt er bei Standard Lüttich und Kickers Offenbach. Mit dem Verein feiert er 1972 den Wiederaufstieg in die erste Liga und erzielt 1974 das "Tor des Jahres". Seine letzten Stationen im Profifußball sind Werder Bremen und VFL Osnabrück. Er hätte mehr erreichen können, wie er selbstkritisch zugibt. Seine Eskapaden, u.a. tagelanges Fernbleiben vom Training und Alkoholexzesse, sind berüchtigt. In Bremen sagt Manager Rudi Assauer über ihn: Bei uns braucht der Kostedde nicht mehr zu laufen, es genügt, wenn er im gegnerischen Strafraum steht und mit seinem Hintern noch Tore macht. Nach seiner Karriere erfolgt der Absturz. Das Geld ist weg, schließlich wohnt er mit Frau Monique und Sohn in einem Trailerpark bei Billerbeck. Der Tiefpunkt am 23. August 1990: Auf dem Weg von Havixbeck nach Münster wird Kostedde von der Polizei angehalten und verhaftet. Vor den Augen seiner Familie. Er wird beschuldigt, in Coesfeld eine Spielothek überfallen und ganze 160 Mark erbeutet zu haben. Er muss sofort in U-Haft. Nach drei Monaten wird Haftverschonung abgelehnt, Kostedde unternimmt einen Suizidversuch und wird ins LKH Münster eingewiesen. Der spektakuläre Prozess beginnt am 24.04.91 und offenbart gravierende, womöglich rassistisch motivierte Ermittlungspannen. Die Kassiererin hat ihn bei der Gegenüberstellung wiedererkannt. Vor Gericht ist sie sich nicht einmal sicher, ob dies der Mann ist, den sie bei der Polizei wiedererkannt hat. Zudem ist Kostedde bei der Gegenüberstellung der einzige Anwesende, vorgeschrieben sind sieben Personen. Die Polizei wird später erklären, sie habe nicht so viele schwarze Menschen dafür auftreiben können ... Kostedde wird freigesprochen.

Der Rassismus ist nach wie vor da, sagt er heute. Er ist ganz nah. Und in einem Interview mit der Fachzeitschrift 11 Freunde bewertet er Clemens Tönnies' rassistische Aussagen über Afrikaner ganz eindeutig: Wer so etwas sagt, dem ist das nicht einfach passiert. ... Um es deutlicher zu sagen: Clemens Tönnies ist ein Rassist. 

Der versierte Fußballkenner Alexander Heflik, Sportchef der Westfälischen Nachrichten, verhilft mit dieser Biografie dem Menschen und deutschen Fußballprofi Erwin Kostedde zu etwas, was ihm wohl zeitlebens - mit Ausnahme vielleicht in den Offenbacher Jahren - versagt geblieben ist: Respekt. Mit viel Empathie und beeindruckendem Sachverstand zeichnet er einen Lebensweg nach, dessen Verlauf jedem Leser / jeder Leserin zu denken geben wird. Erhellend sind auch die dort eingebrachten Stimmen und Meinungen von Zeitgenossen, insbesondere die Erinnerungen des Fußballprofis Jimmy Hartwig, der mit vergleichbaren Diskriminierungen ganz anders umgegangen ist. Ein Buch nicht nur für Fußballinteressierte. Und wer ihn bisher noch nicht gesehen hat, sollte sich ebenfalls den 2021 erschienenen Dokumentarfilm Schwarze Adler, der sich mit den Erfahrungen und Erlebnissen schwarzer deutscher Nationalspieler:innen auseinandersetzt, auf die To-do-Liste setzen, empfiehlt Alfons Huckebrink.

Die Biografieempfehlung des Monats März 2022

Brandi Carlile: Broken Horses. A Memoir. New York: Crown. 2021

 

All these lines across my face / Tell you the story of who I am / So many Stories of where I've been / And how I got to where I am / But these stories don't mean anything / When you've got no one to tell them to / It's true ... I was made for you

 

Beim Verfassen dieser Zeilen zu Brandi Carliles Erinnerungen lausche ich der Musik von The Story (1. Strophe oben im Zitat), einem ihrer ausgesprochen emblematischen Songs, erschienen 2007 auf dem gleichnamigen Album. The Story ist ihr zweites Album und das erste mit einem größeren Erfolg. Produziert wurde es von der legendären US-Musikikone T-Bone Burnett. In ihrem mit vielen Fotos ausgestatteten Buch spürt sie erschöpfend der Genese dieses Songs nach. Überhaupt besteht darin eine seiner großen Stärken. In The Joke, einem weiteren fulminanten Song aus dem Album By the way, I forgive you (2017), reflektiert sie u.a. ihre Eindrücke von Chris jr., dem 12jährigen Sohn ihres Schlagzeugers, der wegen seines linkischen Wesens in der Schule gemobbt wird: The kids at school were calling him a fag. Im Liedtext zu The Joke gelingen ihr die großartigen Verse: They can kick dirt in your face / dress you down and tell you that / your place is in the middle / When they hate the way you shine / I see you tugging on your shirt / Trying to hide inside of it / And hide how much it hurts

Inzwischen hat Brandi Carlile ihren Weg zur international erfolgreichen Singer/Songwriterin zurückgelegt, der für ihre Arbeiten bereits sechs Grammys verliehen wurden. In ihrem Memoir, das bislang leider nur auf Englisch vorliegt, blickt sie darauf zurück. Sie wird 1981 in eine musikalische Familie hineingeboren und steht mit acht Jahren erstmals gemeinsam mit ihrer Country begeisterten Mutter auf der Bühne. Mit 17 Jahren verlässt sie ihre ländliche Heimat und geht nach Seattle. Entscheidend für ihren weiteren Weg ist die Begegnung mit den Zwillingen Phil und Tim Hanseroth, der im Memoir das Kapitel Irish Twins gewidmet ist. We were completely inappropriate. We wrote terrible joke songs, we were wild and we liked kid booze - Jägermeister, Goldschläger, and Rumple Minze. Trotz dieser heftigen Begleiterscheinungen sind die beiden bis heute ihre kongenialen Begleitmusiker und an der Entstehung ihrer meisten Songs beteiligt. 

2002 outet sich Brandi Carlile als lesbisch. Eine der eindrücklichsten Passagen in Broken Horses schildert ihre brüske Zurückweisung von der Taufe (im Kapitel Baptists are mean). Pastor Steve nimmt sie beiseite und examiniert sie: Do you practise homosexuality? Ihre bemerkenswerte Antwort: I don't care for that word. I'm only being who I was born to be. Die Antwort des Gottesmannes ist unmissverständlich: If you can't repent, I can't baptize you. Brandi Carlile heiratet 2012 die Engländerin Catherine Shepherd. Sie haben zwei Töchter. 2021 erscheint Carliles aktuelles Album In these silent days, in dem ihre Erfahrungen mit der Pandemie einen musikalischen Ausdruck finden.

Die Lektüre der Broken Horses Memoiren lohnt auch die Mühen der Fremdsprache. Ansonsten bleibt Ihnen selbstverständlich Brandi Carliles Musik, die immer berührend ist. Ich kenne keinen Song von ihr, der enttäuscht, bekennt Alfons Huckebrink.  

Die Biografieempfehlung des Monats Februar 2022

Deutscher Bundestag: Rede am Gedenktag für die Opfer des Holocausts

 

Leider ist dieser Krebs wieder erwacht und Judenhass ist in vielen Ländern der Welt, auch in Deutschland, wieder alltäglich. Diese Krankheit muss so schnell wie möglich geheilt werden.

Inge Auerbacher am 27. Januar 2022 im Deutschen Bundestag.

 

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Seit 1996 führt der Deutsche Bundestag zu diesem Datum eine Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus durch.

 

In einer ergreifenden Rede hat in diesem Jahr die Holocaust-Überlebende Dr. h. c. Inge Auerbacher die schrecklichen Ereignisse ihrer Kindheitsjahre im faschistischen Deutschland geschildert. Die 87-jährige heutige US-Staatsbürgerin sprach in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages.

 

Inge Auerbacher war als Siebenjährige von Stuttgart aus in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden. Soviel ich weiß, bin ich das einzige Kind, das unter allen Deportierten nach Stuttgart zurückkehrte. 20 Personen von unserer Familie sind von den Nazis ermordet worden. Nach der Befreiung des KZ's durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 folgte im Mai 1946 die Emigration nach New York. 

 

Zur Rede Inge Auerbachers im Deutschen Bundestag

Die Biografieempfehlung des Monats Januar 2022

Alicia Keys & Michelle Burford: More Myself – Mehr ich selbst. München: Knaur. 2020

 

Das Buch startet mit einer autobiografischen Erinnerung. Alicia Keys‘ Mutter, eine alleinerziehende Teilzeitschauspielerin, sitzt in einem Taxi, AK ist sieben Jahre alt, das muss 1988 gewesen sein. Sie fragt ihre Mutter, warum die Frauen, die sie aus dem Taxifenster sehen kann, so wenig angezogen haben, obwohl es sehr kalt ist. Die Erklärung ihrer Mutter: Diese Frauen versuchen zu überleben. Die Szene greift einen roten Faden dieser Autobiografie auf: AK möchte niemals Opfer der Umstände sein, abhängig von anderen, bloßgestellt, halbnackt. Der Weg aus Armut und Unsicherheit ist eine Motivationsquelle, aber nicht die wichtigste. Als Künstlerin hat für sie nicht der materielle Erfolg Priorität, sondern die Arbeit selbst ist ihr zentraler innerer Antrieb. Trotz ihres permanenten Ringens um Authentizität und der Entwicklung zur erfolgreichen Musikerin, Frau und Mutter sowie zur selbstständigen Singer/Songwriterin-Persönlichkeit ist sie vielfältigen Diskriminierungen und Manipulationen ausgesetzt, denen sie sich mit ihrem ihr eigenen Selbstbewusstsein entgegensetzt. Ihr Vater ist farbig, deshalb gilt sie als farbig, und sie ist eine Frau. Sie ist stolz auf ihre afrikanischen Wurzeln, die ihre Identität ausmachen. Während einer Reise nach Ägypten wird ihr klar, dass die Wiege der Kultur in Afrika liegt. Frauen haben es als Songwriterinnen und Musikerinnen schwerer als Männer, bekannt und anerkannt zu werden. Ein weiterer autobiografischer Flashback: Sie ist neunzehn und wird für ein frühes Plattencover fotografiert. Dabei wird mehr von ihrem Körper gezeigt, als sie es selbst will. Nacktheit verkauft sich zwar besser, zu dieser Zeit ihres Lebens verhüllt sie sich jedoch lieber oder trägt jungenhafte Kleidung, auch, um sich zu schützen. Die kleine Familie erhält ein gebrauchtes, altes Klavier, AK darf Ballettunterricht nehmen. Sie wird von der Großmutter väterlicherseits liebevoll unterstützt. Das College wird gegen den Willen der Mutter abgebrochen, die nächtlichen Jams mit ihrem Freund Kerry nehmen dafür einfach zu viel Energie und Zeit ein. Sie baut sich eine Karriere als Musikerin auf, dabei entwickelt sie ihren ganz eigenen Stil, der ein enger Ausdruck ihrer biografischen Entwicklung ist. Schritt für Schritt emanzipiert sich AK aus alten Einschränkungen und Abwertungen, auch aus der Bescheidenheit ihrer Herkunft und den existenziellen Ängsten. Schon die Ballettlehrerin verlangt von ihr, dass sie ihren Hintern einziehen soll, da sie ihn für zu dick befindet. Ihre Reaktion ist Widerstand und Wut. Das Thema Schönheitslüge, mit der die Frauen unterdrückt werden, indem sie einer unerreichbaren Norm unterworfen werden, egal ob schwarz oder weiß, ist ein weiterer roter Faden der Autobiografie, allerdings ist hier schon früh ihr natürliches Selbstbewusstsein festzustellen: Sie lehnt die sogenannten Schönheitsnormen für Frauen ab. Möglichst weiß und möglichst dünn auszusehen. Vor jedem Foto-Termin und vor jeder Show eine dicke Schicht Makeup zu tragen, Tag für Tag, damit ist bald Schluss. Nach einer Geburt möglichst wieder schnell so wie vorher auszusehen, nur ja kein bisschen Cellulite zu zeigen (Darauf warten die Paparazzi, um es der Klatschpresse zu präsentieren). „Wer hat das Recht, ein Foto von meinem Hintern zu schießen und es nachher überall zu verbreiten?“… Eine berechtigte Frage.

Auch mit vierzig ärgert es sie noch, dass ihr Körper, der eben der ihre ist und den sie als vollkommen natürlich erlebt, mit dem sie selbst zufrieden ist, für ein Plattencover per Fotoshop verändert wird, damit sich ihre Musik nach Ansicht ihres Produzenten besser verkauft.

Schritt für Schritt wehrt sie sich und löst sich aus geschäftlichen Bindungen, von Produzenten, Managern und wird mehr und mehr sie selbst. Es fällt ihr schwer, sich etwas zu gönnen, sie, die in Manhattan in einem Stadtteil namens „Hells Kittchen“ unter eher bescheidenen Bedingungen aufgewachsen ist. So ist die Biografie zum Teil vielleicht auch etwas geglättet, wohl, weil die Künstlerin immer noch veröffentlicht und um ihre Privatsphäre zu schützen. Dadurch entsteht ein paradoxer Effekt zum Titel des autobiografischen Buches. Trotzdem: Ein beachtenswerter Lebensweg mit wichtigen Erkenntnissen, nicht nur für Frauen, findet Gudula Ritz