Biografie-Empfehlungen aus 2017

Die Biografieempfehlung des Monats Januar 2017

Bella Chagall: Brennende Lichter“. Reinbek: Rowohlt Verlag 1966

 

Dieses autobiografische Werk der Ehefrau des berühmten russischen Malers Marc Chagall wurde von diesem mit zahlreichen Skizzen und Zeichnungen bedacht. Bella Chagall beschreibt in diesem Werk Erinnerungen an ihre früheste Kindheit in Russland, wo sie als Bella Rosenberg 1885 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren wurde.

Sie starb in New York 1944, wo sie offenbar diesen Text verfasst hat.

Schon der Einstieg ist berührend: „Seltsam – ich möchte plötzlich schreiben, stammelnd in meiner Muttersprache schreiben, die ich nicht mehr gesprochen habe, seit ich mein Elternhaus verließ. So weit meine Kinderjahre von mir weggeglitten sind, jetzt kommen sie zu mir zurück, näher, immer näher, sind schon so nah, daß ich ihren Atem zu spüren glaube." (S. 7) Das Original wurde in Jiddisch geschrieben.

Dem Leser werden eine bilderreiche Sprache und Szenen der russisch-jüdischen Kultur lebhaft und mit den Augen eines kleinen Mädchens vermittelt. Dabei werden einem nicht nur die Kinderperspektive, z.B. das Gefühl eines jüngsten Kindes in einem Geschäftshaushalt, das Eins-Sein mit der Natur während der sommerlichen Landaufenthalte nahegebracht, sondern die verschiedenen Bräuche der jüdischen Kultur selbst aus Kindersicht. Im Anhang befindet sich ein Glossar mit jüdischen Begriffen, die dem Leser das Verständnis erleichtern. Es werden viele Parallelen zu christlichen Ritualen deutlich und dadurch auch die ursprüngliche Bedeutung dieser Religion für die abendländische Kultur. Bella Chagall zeichnet prototypische Szenen wie das Bad, den Hof, Neujahr, Schlittenfahrten mit ihrem Bruder, eine Hochzeit u.v.m. so bilderreich mit zarten einfachen Worten, zu denen wunderbar die Gemälde und Zeichnungen ihres Ehemannes Marc Chagall harmonieren. Empfohlen von Gudula Ritz

 

Die Biografieempfehlung des Monats Februar 2017

John Williams, Augustus. München: dtv 2016

Den ersten römischen Kaiser Augustus, geboren als Octavius, kennt vermutlich jeder aus dem Neuen Testament als Initiator einer berühmten Volkszählung. Mit seinem Onkel Gajus Julius Caesar, der ihn später adoptierte und zum Erben bestimmte, sowie dem großen Alexander gehört er zu den bedeutendsten Gestalten der Antike. Von beiden letztgenannten unterscheidet ihn, dass er sehr lange lebte (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) und dass sein politisches Lebenswerk noch lange nach seinem Tod Bestand hatte.

Der Autor John Williams (gest. 1994 in Arkansas) ist vermutlich weniger bekannt. Er schrieb drei Romane, darunter den bekannten ‚Stoner‘, seinen leider weniger verbreiteten Erstling ‚Butcher’s Crossing‘ und eben ‚Augustus‘.

In diesem Buch, in dem sich zwei Teile identifizieren lassen, bedient er sich der Methode der fiktiven Aufzeichnungen, deren Ergebnis der Gattung Briefroman sehr nahekommt.

Im ersten Teil geht es um den Aufstieg des jungen Octavius und die Befestigung seiner Macht als Augustus. Stichworte wären die Ermordung Caesars, das Ringen mit Marc Anton und Kleopatra, der Tod wichtiger Gefährten und eine beginnende Vereinsamung.

Der zweite Teil eröffnet mit einer neuen Stimme, dem Tagebuch der Tochter Julia, und endet mit einem fiktiven Lebensfazit in Briefform des Kaisers selbst, das überlieferte Textfragmente umschließt. Es handelt von der Einsamkeit der Macht und der Vergeblichkeit menschlichen Strebens. Ein großartiger Ausklang, in dem die Passage um den Verlust der römischen Legionen in der Varusschlacht für deutsche Leser äußerst erhellend sein dürfte, wird hier Arminius doch als die Persönlichkeit geschildert, die er wohl tatsächlich verkörpert haben dürfte: ein intrigantenreicher schnöder Verräter. Insgesamt ist das Buch auch in literarischer Hinsicht mit großem Genuss zu lesen. Viel mehr kann der Leser von einem historischen Roman nicht wirklich erwarten, meint Alfons Huckebrink.

Die Biografieempfehlung des Monats März 2017

George Martin (mit Jeremy Hornsby): Es begann in der Abbey Road. Der geniale Produzent der Beatles erzählt. Höfen (A): Hannibal Verlag 2013

Die Autobiografie des am 8. März 2016 verstorbenen Musikers und Produzenten George Martin trägt im englischen Original den Titel "All you need is ears". Das sinnige Wortspiel mit einem bekannten Beatles-Titel verweist bereits auf die diffizile Aufgabe des Autors, den Leser auch für das Leben vor und nach den Jahren mit der Liverpooler Band zu interessieren. Das gelingt ihm recht gut.

George Martin ist bei mehr als 5000 Titeln als Produzent registriert. Insgesamt war er für über 30 Nummer-eins-Hits verantwortlich. Wir erfahren, wie jemand, der klassische Musik studiert hat, überhaupt auf die Idee kommt, Produzent zu werden, und schließlich bei Parlophone landet; die ersten Kooperationen mit Peter Sellers, Spike Milligan oder Bernard Cribbins werden gewürdigt. Zudem gibt es lesenswerte Kapitel, veritable Grundkurse, über Klänge und ihre Wirkungen sowie über die Entwicklung der Aufnahmetechnik.

Indessen beginnt das Buch mit der bekannten Episode, wie Martin Anfang 1964 in Paris John und Paul überreden muss, die beiden Titel "I want to hold your hand" und "She loves you" auf Deutsch aufzunehmen, die Lyrics übersetzt von einem Deutschen. " 'Sie liebt dich, ja, ja, ja ...' klang in meinen Ohren wie eine für Peter Sellers charakteristische Parodie." Gleichzeitig erreicht der erstgenannte Titel die Spitzenposition der US-Charts und die Beatles werden nie wieder einen Song in einer anderen Sprache aufnehmen.

Immer wieder spannend zu lesen sind Berichte über das Kennenlernen und die Produktion der ersten Beatles LP "Please, please me", wobei Martin eine Lanze bricht für jenen unglücklichen Decca-Kollegen, der die Band nach einem Vorspielen hat abblitzen lassen. Angemessen detailliert wird die Entstehung des legendären Meisterwerks "Sergeant Pepper's" geschildert und der Leser erhält manchen Einblick in die für die damalige Zeit erstaunlichen technischen Raffinessen, die sich Musiker und Produzent haben einfallen lassen.

Was im Buch nicht verraten wird, sei hier als kleiner Service nachgereicht, nämlich der Name des "deutschen" Übersetzers jener Titel "Sie liebt dich" und "Komm gib mir deine Hand". Es war der Sänger Camillo Felgen (1920 - 2005), damals Moderator der Hitparade von Radio Luxemburg, und natürlich kein Deutscher, sondern Luxemburger. (Könnte vielleicht mal die Antwort auf eine 1 Million-Euro-Frage werden.)

Eine empfehlenswerte Lektüre nicht nur für Beatles-Fans. Dem Buch hätte allerdings ein sorgfältiges Endlektorat gut getan; es enthält zahlreiche sprachliche Fehler. Alfons Huckebrink

Die Biografieempfehlung des Monats April 2017

Patric Seibel: "Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals". Das SS-Massaker von Distomo und der Kampf eines Überlebenden um Gerechtigkeit. Frankfurt/ M.: Westend 2016

10. Juni 1944. Um halb sechs Uhr abends überfällt eine Kompanie des SS-Panzergrenadier-Regiments aus Livadia das griechische Dorf Distomo. SS-Hauptsturmführer Fritz Lautenbach erteilt den Befehl, alle Dorfbewohner zu töten. Die Soldaten geraten in einen Blutrausch. Das Massaker an den Dorfbewohnern fordert 218 Opfer. Der vierjährige Argyris Sfountouris überlebt mit seinen Schwestern, weil ein deutscher Soldat sie ins Haus zurückscheucht. Die Kinder haben an diesem Tag 32 Verwandte verloren, darunter Vater und Mutter. Keiner der Täter wird jemals vor Gericht gestellt werden. "Argyris ist zu jung, um zu verstehen, was passierte. Sobald er älter geworden ist, versucht er, das Unfassbare zu begreifen. Dieses Warum beschäftigt ihn sein Leben lang."

Der Autor und Journalist Patric Seibel hat dieses Leben jetzt in einer sorgfältig recherchierten, einfühlsam geschriebenen Biographie dargestellt. Argyris hat Glück. In den nächsten Jahren (Kriegsende, Bürgerkrieg) überlebt er nur knapp; aufgrund der Mangelernährung behält er einen Leberschaden. Im Jahre 1949 wird er ausgewählt für einen Platz im neugegründeten Pestalozzi-Kinderdorf in Trogen (CH). Er findet sich in fremder Umgebung langsam zurecht, hat Freude und Erfolg beim Lernen und erwirbt die Matura. Er studiert Physik, wird Lehrer, gründet eine Zeitschrift und leitet später Hilfsmissionen der UNO in Afrika und Asien. Seinem Dorf bleibt er verbunden, obwohl er in den ersten Jahren nur selten nach Griechenland zurückkehren kann. Zunächst wegen des mangelnden Geldes, später wegen der Militärdiktatur, die er von der Schweiz aus entschieden bekämpft.

Der 50. Jahrestag des Massakers ist ihm und anderen Anlass, sich für die Überlebenden um eine Entschädigung einzusetzen, welche bis heute ausgeblieben ist. Im ersten ablehnenden Bescheid schreibt ihm die deutsche Botschaft 1995, die "Vergeltungsaktionen" seien "als Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung" zu betrachten. Reparationszahlungen, wie sie zuletzt von Ministerpräsident Tsipras geltend gemacht wurden, werden von deutschen Regierungen abgelehnt. Gleichermaßen wendet sich Argyris in den nächsten Jahren gegen eine aufgezwungene Versöhnung, die Geschichte, Gedenken und Erinnerung nivelliert, sowie gegen das Aufkommen griechenfeindlicher Stereotype in den Medien.

Seine jüngere Schwester Kondylia hat nicht soviel Glück. Sie lebt schwer traumatisiert seit dem Überfall in einem Pflegeheim. Die dem Land vor allem von Wolfgang Schäuble aufgezwungenen 'Reformen' haben in einer bitterbösen geschichtlichen Volte dazu geführt, dass die Rente Kondylias um 300 € gemindert wurde, während die Heimkosten gleichzeitig um 150 € stiegen.

Ein sehr lesenswertes Buch über einen klugen gebildeten Menschen, Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Opfer und somit ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen, Vereinnehmen und Verdrehen. Urteilt Alfons Huckebrink

Anmerkung: 2006 drehte der Schweizer Stefan Haupt seinen eindrucksvollen Film "Ein Lied für Argyris". Er ist bei Youtube zu sehen.

Die Biografieempfehlung des Monats Mai 2017

Hardy Krüger: Was das Leben sich erlaubt. Mein Deutschland und ich. Mit historischen Ergänzungen von Peter Käfferlein und Olaf Köhne.

Hamburg: Hoffman und Campe, 2016

 

In diesem autobiografischen Werk blickt der nun über 85 jährige Schauspieler und Autor Hardy Krüger auf seine Kindheit und Jugend im Nazideutschland sowie im 2. Weltkrieg sowie seine beginnende berufliche Entwicklung zurück. Seine Perspektive fokussiert vor allem auf die Verwobenheit seiner Lebensgeschichte mit der jüngeren deutschen Geschichte, was der gewählte Titel und Untertitel „Was das Leben sich erlaubt. Mein Deutschland und ich“ bereits andeuten. Man könnte meinen, HK sei im Verlaufe dieser Geschichtsverwerfungen hilfloses Opfer der Umstände gewesen, was in gewisser Weise bei Kindern natürlich wäre und die ersten Kapitel des Buches dem Leser auch nahelegen, doch dies ist eine irrtümliche Annahme.

HK, Kind von überzeugten Nazis und Parteimitgliedern, schildert authentisch und nachvollziehbar, was dies für Kinder der damaligen Zeit bedeutet hat. Diese Sichtweise ist schon mal ungewöhnlich und weicht von den weit verbreiteten tabuisierenden, leugnenden und/oder heuchlerischen Kindheitsbeschreibungen ab. HK wird später mit 13 Jahren sogar Schüler der Ordensburg in Sonthofen, eine Art Militärakademie der Hitler-Jugend, wo er sich im inhumanen Depersonalisierungsprozess und in innerer Zerrissenheit zwischen äußerer Anpassung und Bedürfnisverweigerung einen Persönlichkeitskern scheint erhalten zu haben, der nicht ganz infiltiert wurde. Seine Lebensträume waren Fliegen und Schreiben. Eine wichtige Ressource ist die Bibliothek, die zwar der Zensur unterliegt, aber immerhin die Bekanntschaft mit Shakespeare ermöglicht. Eine weitere Ressource und Freiheitsoption war das Segelfliegen, welches im Rahmen der Schule gelernt werden konnte und das (heimliche) Tagebuchschreiben. Historische  Einstreuungen untermauern den persönlichen Rückblick. Als Omen bezeichnet es HK, dass er zweimal im Laufe seiner Kindheit direkt neben einem Kino wohnte, welches großen Eindruck auf ihn machte und später, in seiner jungen Schauspielkarriere, wieder aufgegriffen wurde und zu seinem „Doppelleben“, d.h. zu einer kritischen Haltung und passiven Widerstand gegen die Nazis geführt hat. Der Schauspieler Alfred Weidenmann sorgte für Sonderbeurlaubung HKs aus der Ordensburg und stellte die Weichen für die weitere persönliche Entwicklung und die Schauspielkarriere, die in der Ufa in Babelsberg begann und einerseits die Nähe zum Elternhaus ermöglichte und andererseits Kontakt mit kritischen Informationen und Mentoren, die sich im Widerstand gegen das Naziregime engagierten. Der bedeutendste Mentor war der Schauspieler Hans Söhnker, der sich für die Rettung von jüdischen Mitbürgern einsetzte und für HK so etwas wie ein zweiter Vater war. Es folgen eindrückliche Schilderungen der Erfahrung des Schrecklichen, des Kriegs, der Vernichtung von Millionen Menschen, der Todesnähe, des Unaussprechlichen, von Schuld und Zerstörung – aber auch des Überlebens. In der Nachkriegszeit folgt die Flucht aus amerikanischer Gefangenschaft, die Arbeit am Hamburger Schauspielhaus und als Radiosprecher im deutschsprachigen BBC.

Die autobiografische Erzählung endet mit der Verwobenheit der Lebensgeschichte mit einem befreundeten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, und dem Altkanzler Adenauer, zu dem er eine kritische Haltung besaß und diese öffentlich kundtat. Es findet sich wenig aus seiner privaten Lebensgeschichte in diesem bemerkenswerten autobiografischen Werk, außer der Begegnung mit seiner großen Liebe, der Amerikanerin Anita Park, mit der er zum Zeitpunkt der Erzählung über 40 Jahre verheiratet ist. Heute noch, in fortgeschrittenem Alter, engagiert sich HK für die politische und persönliche Bildung von jungen Menschen. Sehr empfehlenswert, vor allem wegen der in vielfacher Hinsicht einzigartigen und ungewöhnlichen Perspektive, findet Gudula Ritz.

 

 

Die Biografieempfehlung des Monats Juni 2017

Coelho, Paul (2016): Die Spionin (Mata Hari). Zürich: Diogenes

 

Der weltbekannte Autor Paulo Coelho hat sich der Lebensgeschichte von Mata Hari (*1876 -15.10.1917 mit 41 Jahren) angenommen und diese als fiktive Autobiografie gestaltet. Die Romanbiografie beginnt mit einem Pressebericht über die Hinrichtung Mata Haris am 15.10.1917 in Vincennes, die in diesem Jahr 100 Jahre zurückliegt. Mata Hari ging aufrecht in diese finale Situation, und wenn sie auch ihr Leben nicht bewahren konnte, so doch ihre Würde.

Sie wurde, so offenbar auch die Auffassung des Autors Coelho, zu Unrecht wegen Spionage für Deutschland verurteilt. Coelho gestaltet im weiteren Verlauf die Biografie als Briefwechsel von MH mit ihrem Anwalt, in den längere biografische Episoden rückblickend einfließen, die einen tieferen Blick auf die Persönlichkeit von Margaretha Zelle, alias Mata Hari, erlauben. Den Künstlernamen Mata Hari nahm sie nach der Trennung/Scheidung an, unter ihm wurde sie schnell eine der ersten und berühmtesten Showstars des beginnenden 20. Jahrhunderts in Paris. Dabei imitierte sie Tänze, die sie während ihres Aufenthalts mit einem niederländischen Offizier in Ost-Indien gesehen hatte, und mischte sie mit Erotik. Sie betrachtete ihre (Schleier-) Tänze als Kunst. Sie war mutig, unabhängig und unkonventionell, was für eine Frau der damaligen Zeit bemerkenswert war. Stets bewahrte sie sich ihren eigenen, manchmal eigensinnigen Blick auf Menschen und Umstände. Dies wurde ihr möglicherweise zum Ende ihres Lebens zum Verhängnis, weil sie die Gefahr der Verleumdung, in der sie sich befand, unterschätzte und die der Unterstützung durch einflussreiche Kontakte überschätzte. Empfohlen von Gudula Ritz

Die Biografieempfehlung des Monats Juli 2017

Stollberg-Rilinger, Barbara: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. München: C.H.Beck, 2017

"Es gibt keinen wirklichen Verlust in dieser Welt als den der Zeit; er ist irreparabel; mit einem unnützen, nichtstuerischen Leben verwirkt man sein Seelenheil." Diese Maxime vermittelt die Monarchin 1774 ihrem Sohn Ferdinand und vielleicht kennzeichnet gerade dieses Zitat überaus genau die Persönlichkeit Maria Theresias (1717-1780), deren Lebenszeit soeben in einer herausragenden Untersuchung der Münsteraner Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger (St.-R.) ausgeleuchtet worden ist. Vielen wird Maria Theresia aus drögem Geschichtsunterricht wohl lediglich noch bekannt sein als große und weibliche Gegenspielerin Friedrich II., eines aus ihrer Sicht drittklassigen Aufsteigers, dem sie Schlesien überlassen muss, sowie hintangesetzt zu ihrem Sohn und Nachfolger Joseph II., der als aufgeklärter Monarch weitreichende Reformen im habsburgischen Länder- und Völkerkonglomerat in die Wege leiten wird.

St.-R. gelingt es in glänzender Manier, dem Wirken Maria Theresias gerecht zu werden, indem sie erfolgreich versucht - auch durch Heranziehung einer stupenden Anzahl von Quellenbelegen - ihre Herrschaft in die widersprüchlichen Entwicklungslinien jener Epoche einzuordnen sowie ihr Bildnis jenseits der zahlreichen Mythen, die eine immens fleißige Geschichtsschreibung in den ersten 200 Jahren nach ihrem Ableben geschaffen hat, neu zu konturieren. Sei es ihre Inszenierung als weibliche Herrscherin und ihre kinderreiche Ehe mit dem von Geburt rangniedrigeren Kaiser Franz Stephan, seien es ihre Kriege, nicht zuletzt die Katastrophe des 7-jährigen mit der vorhergehenden Umwälzung der europäischen Allianzen, seien es die Vertreibung der Prager Juden, die Verfolgung der Protestanten oder die Hungersnöte in Böhmen, um nur einige wenige Aspekte der Biografie zu benennen, stets bleibt St.-R. ihrer Leitlinie treu und betrachtet Herrscherhandeln und seine Begrenztheit im Zusammenhang der Zeitläufte und der gegebenen, durchaus widersprüchlichen Interessenlagen. Akribisch genau und durch gut ausgewählte Zitate belegt, zeigt ST.-R. auf, was es mit der berühmten Heiratspolitik (... tu felix Austria nube) auf sich hat und wie Maria Theresia Familienpolitik nach den vermeintlichen Erfordernissen ihres dynastischen Verständnisses betrieb. Zumeist mit zweifelhaften Erfolgen, besonders drastisch verdeutlicht am Schicksal ihrer Tochter Maria Antonia, die als Marie Antoinette und ehemalige französische Königin auf der Guillotine hingerichtet wird, was mitzuerleben ihrer Mutter erspart bleibt.

Am Ende hat Maria Theresia ihre eigene Epoche überlebt, ist in vielfacher Hinsicht - gemessen an den eigenen Vorstellungen - gescheitert und betrachtet sich selbst als Wesen aus einem anderen Zeitalter. Im Kreise etlicher Familienmitglieder stirbt sie am 30. November 1780. Sie "richtete ihre erstaunliche Willenskraft und Disziplin nur noch darauf, einen schönen Tod zu sterben", schreibt St.-R. am Ende ihrer fulminanten Darstellung, deren Lektüre Ihnen kaum Disziplin abverlangt, dafür lang anhaltenden Genuss verspricht, meint Alfons Huckebrink.

Die Biografieempfehlung des Monats August 2017

Jucha, Gary J., Der ultimative Jimi Hendrix Guide. Höfen (A): Hannibal Verlag, 2017

Am 27.11.17 würde der Gitarrist Jimi Hendrix seinen 75. Geburtstag feiern können. Dieses Datum im Sinn besichtigte ich vor einigen Wochen den Jimi Hendrix-Gedächtnisstein auf der Insel Fehmarn. Unweit des malerischen Leuchtturms Flügge, mitten im einsamen Naturschutzgebiet gelegen, markiert er den Ort, an dem am ersten Septemberwochenende 1970 das nicht nur wegen des Wetters chaotisch verlaufende 'Love and Peace'-Festival stattfand. Am 06.09. hatte Jimi dort seinen letzten Auftritt,-  sieht man von einer Jam-Session am 16.09. mit Eric Burdon und dessen Gruppe War in Ronnie Scott's Jazz Club ab -, bevor er am 18.09. im Zimmer des Londoner Hotels Samarkand tot aufgefunden wurde.

Im eben neu erschienenen Guide zu Jimis Leben und Werk wird auch dieser Auftritt gewürdigt: Unmittelbar danach "flohen Hendrix und seine Band mit einem Hubschrauber von der Insel, während die Biker die Bühne in Brand setzten." Auf respektablen 484 Seiten handelt Gary J. Jucha so ziemlich jeden Aspekt in Jimis Leben und Nachleben ab: musikalische Wurzeln, Songanalysen, Studioarbeiten, Konzerte, Knebelverträge seitens der Musikindustrie, manipulative Groupies, Drogenkonsum, Bewertung der Todesumstände, Streit um seinen beträchtlichen musikalischen Nachlass, Sichtung der wohl niemals endenden posthumen Veröffentlichungen und Bewertungen. Jucha kann als einer der besten Kenner des Phänomens Hendrix gelten. Dass er dem Leser seine (stets begründeten) persönlichen Einschätzungen nicht vorenthält, macht ihn sympathisch und verleiht dem Buch einen hohen Gebrauchswert für arrivierte Fans wie für neu Infizierte, deren nicht abreißender Strom den Mythos Hendrix dauerhaft umspült.

Das erste Konzert der frisch formierten Jimi Hendrix Experience fand übrigens im Oktober 1966 als Vorgruppe von Johnny Hallyday im Novelty Theatre in Evreux (F) statt. Einen ersten Triumph feierte die Gruppe am 18.10. im Pariser L'Olympia. Kurios, dass die Experience in den USA auch mal als Vorgruppe der Monkees auftrat ...

Sicherlich mag das plakative Attribut 'ultimative' im Titel des Buches den einen oder die andere verstören, wenngleich die Fülle des ausgebreiteten Materials geeignet ist, fast alle Fragen zu Hendrix zu beantworten. Fast alle, denn glücklicherweise konzediert der Verfasser selbst, dass eine Annäherung an ein musikalisches Genie manche Gewissheit in Frage stellt. Wirst du nie mehr Surf Music hören? Empfohlen von Alfons Huckebrink, der sich in dieser Frage bereits festgelegt hat.

Die Biografieempfehlung des Monats September 2017

Deville, Patrick: Pest und Cholera. Roman. Zürich: Unionsverlag 2017

 

Dieser autobiografische Roman beschreibt die Lebensgeschichte Alexander Yersins, der 1863 im protestantischen Waadtland in der Schweiz geboren wurde, Sohn eines  privaten Insektenforschers, der den jung gestorbenen Vater nie kennengelernt, aber von dessen Beobachtungsgabe etwas mitbekommen hat.

„Pest und Cholera“ ist eine Forscherbiographie über den Entdecker des Pestbazillums, der ein Leben lang die Natur und seine persönliche Freiheit dem Labor vorzieht. Ein genialer Geist, der ungeheuer wissensbegierig, entdeckungsfreudig, erfindungsreich und vor allem extrem vielseitig ist, zunächst Abenteurer, Entdecker, Landvermesser und Ethnologe, später ein Begründer, Gutsbesitzer, Agrarforscher, Astronom und vieles mehr. Er geht als junger Student der Medizin auf Wunsch der Mutter zunächst nach Marburg, wechselt später nach Paris ans Institut Pasteur, wo er promoviert, die französische Staatsbürgerschaft annimmt und sich der „kleinen Bande der Pasteuriens“, dem Netz von Pasteur-Schülern, anschließt. Parallel gibt es in Paris zeitgleich die „kleine Bande der Parnassiens“, Künstler und Literaten, zu denen u.a. Rimbaud gehört, der mit Yersin den Mut und die Abenteuerlust gemein hatte. Yersin hat für Kunst und Literatur nicht viel übrig, dafür ist er technikbegeistert. Er verlässt gegen den Wunsch Pasteurs Paris und das Labor, um als Schiffsarzt auf der Linie Saigon-Manila zu arbeiten. Als ihm das nicht mehr genügt, entdeckt er eine bisher unbekannte Hochebene in Vietnam, freundet sich mit den Moi an, wird Landvermesser, lebt in Nha Thrang zunächst in einer Holzhütte, später in einem Landhaus, einen Ort, den er bis zu seinem Lebensende zu seinem Wohnsitz macht und später zum ausgedehnten Landgut erweitert. Yersin folgt unberirrt der Spur seiner inneren Neugier, trägt aber Verantwortungsgefühl und schlüpft in seine Laborkittel, wenn man ihn von Institut Pasteur ruft, z.B. als in Hongkong die Pest ausgebrochen ist und Tausende in kurzer Zeit sterben. Gerade angekommen, fallen ihm die vielen toten Ratten auf, was er in seinem Notizbuch vermerkt. Wie sich später noch herausstellen wird, sind Rattenflöhe die Überträger der Pest. In Hongkong finden sich Ärzte aus aller Welt ein, u.a. Japaner und Deutsche. Es gibt einen Wettlauf gegen die Zeit und gegeneinander, denn die Wissenschaftler sind von nationalen Interessen nicht unberührt. Doch obwohl man es Yersin in Hongkong schwer macht, ihm ein Labor verwehrt und er mit einem Feldlabor improvisieren muss, findet er den Pestvirus sehr schnell (der sich glücklicherweise bei Raumtemperatur am besten vermehrt) und kann bald Impfstoffe produzieren lassen. So schnell es geht, kehrt er nach seiner Entdeckung Nha Trang zurück, er liebt die Einsamkeit und Zurückgezogenheit und ist trotzdem ein Freund der Menschen am Kap der Fischer. In Vietnam ist sein Name heute bekannter als in Europa, vielleicht weil er sich aus Geld und Status nie etwas machte und die Zurückgezogenheit vorzog.

Yersin übersteht als junger Mann eine üble Lanzenattacke eines Banditen, als er seine Freunde, die Moi, verteidigt. Er überlebt dank seiner medizinischen Kenntnisse. Am Ende seines achtzigjährigen Lebens liest er Rimbaud, seinen Zeitgenossen, der mit siebenunddreißig Jahren bereits an den Folgen einer Verletzung gestorben war, da ihm die medizinischen (Grund-) Kenntnisse fehlten. Und so schließt Deville den Kreis seiner Erzählung. Deville gestaltet die Lebensgeschichte voraussetzungs- und eindrucksvoll. Aus personaler Perspektive, jedoch so nüchtern und sachlich wie der Schreibstil des Protagoisten beginnt der Roman 1940, als Yersin noch gerade rechtzeitig vor der deutschen Invasion in einem „weißen Wal“, einem Flugboot der Air France, Paris verlässt, wo er sich jedes Jahr mit den Mitgliedern der „kleinen Bande“ trifft und stets das gleiche Zimmer in einem bestimmten Hotel bewohnt. Während des Flugs blickt er auf sein Leben zurück, er liest seine alten Notizbücher und erinnert sich. Parallel fließen Kultur und Literaturgeschichte, Politik und die beiden Weltkriege ein und man erfährt viel aus der damaligen Zeit, vom enormen medizinischen und technischen Fortschritt und den politischen Geschehnissen des schlimmsten Jahrhunderts aller Zeiten aus der Perspektive eines Zeitgenossen, der stets Kriegen und politischem Ränkespiel aus dem Weg gehen wollte. Er schuf sich in Nha Trang sein eigenes Paradies und, so Deville, viele träumen davon aber „er schaffte es“. Empfohlen von Gudula Ritz.

 

Biografie-Empfehlungen des Monats Oktober 2017

Hisham Matar: Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater. München: Luchterhand 2017

 

"Die Rückkehr“….ist die authentische Beschreibung eines komplizierten Trauerprozesses. Dabei geht es um die Trauer des Autors um den Verlust des geliebten Vaters, der überraschend im Kairoer Exil vom libyschen Geheimdienst entführt wurde. Zugleich um die Trauer darum, zwanzig Jahre des eigenen Lebens mit verzweifelten Bewältigungsversuchen verbracht zu haben, sich nicht von der Suche lösen zu können und letztendlich keine Gewissheit zu erhalten, ob der Vater noch lebt oder ob er, was sehr wahrscheinlich ist, vor langer Zeit vom libyschen Regime ermordet wurde. Diejenigen, die es wissen, verweigern die Auskunft und halten den Suchenden hin. HMs Vater, ein ehemaliger lybischer Diplomat und Politiker, später Widerstandskämpfer gegen die Diktatur Gaddafis, wird auf offener Straße entführt, als HM ein junger Mann ist und in London studiert. Von dort aus engagiert er sich für die Freilassung des Vaters und einiger Familienmitglieder, die z.T. nach 17 Jahren als politische Gefangene entlassen werden. Sein Vater aber kommt vermutlich bei einem Massaker im berüchtigten Gefängnis Abu Salim in Tripolis mit 1800 Mitgefangenen ums Leben.

Die Trauer ist auch deshalb kompliziert, weil der Tod des Vaters nicht sicher feststeht, weil Informationen zum Tod verweigert werden, auch nach dem arabischen Frühling, wo im Grunde die gleichen Personen wie im alten Regime an den Hebeln der Macht sitzen und ein Interesse an der Verschleierung der  historischen Gräuel haben.

Obwohl das Buch voll von Trauer und Gewalt ist und z.B. von Folter handelt, ist es ein schönes Buch. Die Gewalt wird nicht inszeniert, sondern gerät an die Grenzen der eigenen Vorstellungskraft. Es überwiegen Schilderungen von Hoffnung und Liebe, z.B. zu seiner Mutter und seinen Brüdern und zu seiner Frau. So wird auch das Alltagsleben inmitten der Bedrohung deutlich. HM will sich das Massaker, in dem sein Vater vermutlich umkam, in allen Einzelheiten vorstellen, aber es bleibt eine vage Vorstellung, die aufgrund mangelnder Gewissheit nicht greifbar ist. Eine Erzählung, die anklagt und das Vergessen verweigert. Das findet auch Gudula Ritz sehr bedeutsam und empfiehlt deshalb diese Lektüre.

Das findet offenbar auch der Börsenverein des deutschen Buchhandels ein paar Tage später:

Zitat: "... unser Autor Hisham Matar wird für sein Buch 'Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater' mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2017 des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern und der Landeshauptstadt München ausgezeichnet. In der Jurybegründung heißt es: ''Die Rückkehr” ist ein Buch über die überwältigende Widerstandskraft des menschlichen Geistes und über die Tugenden der Erinnerung, die dieser Erfahrung gerecht werden will: Beharrlichkeit, Sorgfalt und Vorsicht. Damit erinnert Hisham Matars Werk im weitesten Sinn an das Vermächtnis der Geschwister Scholl und ist geeignet bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.''"

 

Die Biografieempfehlung des Monats November 2017

Christof Wackernagel: RAF oder Hollywood. Tagebuch einer gescheiterten Utopie. Springe: zu Klampen 2017

 

Die episodischen Erinnerungen des Schauspielers Christof Wackernagel (CW) setzen ein mit seiner Verhaftung am 10. November 1977 in Amsterdam. Zu diesem Zeitpunkt ist er nicht einmal ein Jahr bei der RAF. Mit einem anderen Neueinsteiger, Gert Schneider, will er Morphium für den vermeintlich krebskranken „Charly“ besorgen. Hinter diesem Decknamen verbirgt sich Peter-Jürgen Boock, der - so der Autor in einer Fußnote - die Gruppe für seine Drogenabhängigkeit funktionalisierte. CWs Pistole klemmt, Schneiders Handgranate explodiert, als beide auf offener Straße überwältigt werden. Im Rückblick erinnert sich Wackernagel an jenen „merkwürdigen Geruch“, den er kurz zuvor in seiner Wohnung festgestellt haben will. Rührt der vom Angstschweiß der diese in seiner Abwesenheit durchsuchenden Polizisten, deren Kollege zwei Wochen vorher bei einer „Konfrontation“ erschossen worden ist? CWs Überlegung: „Ich hätte nicht die Fenster aufreißen, sondern das Weite suchen sollen.“ Vielleicht wäre er dann um den Knast herumgekommen, aber unmöglich zu sagen, worauf er sich in der Folgezeit eingelassen hätte.

CW wurde 1951 in Ulm als Sohn eines Theaterintendanten und einer Schauspielerin geboren. Er schaute bereits auf eine erfolgreiche Karriere als gefeierter junger Held zurück, wurde gefördert und protegiert, u.a. von der Schauspielerin Rosemarie Fendel, und ihrem damaligen Mann, dem Regisseur Johannes Schaaf. Ein deutscher James Dean, der auf dem Sprung nach Hollywood stand, als er in die Illegalität abtauchte. Wegen einer Utopie?

Wohl auch wegen der einschneidenden politischen Erfahrungen ab 1967; vorher berichtet er im wesentlichen über eine behütete Kindheit in wohl situiertem Elternhaus. Seine Notate arbeiten sich ab an den bekannten Daten: Am 22. Mai 1967 brennt ein Kaufhaus in Brüssel, gemeint als Fanal gegen den Vietnamkrieg. Der junge CW sitzt gerade an den Mathehausaufgaben, als am 2. Juni Benno Ohnesorg in Berlin erschossen wird. Am 2. April 1968 brennen auch in Frankfurt/Main zwei Kaufhäuser, am 11. April erfolgt das Attentat auf Rudi Dutschke. Eine spannende Lektüre. Am 11. Mai endet der Sternmarsch auf Bonn mit einer Enttäuschung: „Wo waren die Millionen geblieben? Ich wusste, spürte: Es ist aus. Das war das Ende. In Deutschland würde es keine Revolution geben.“ Wie also weiter?

Spätestens seit diesem Datum beschäftigt sich CW mit dem Gedanken, sich in die militante Szene einzugliedern, wie es einige seiner Freunde bereits vor ihm getan haben. Er engagiert sich für die Rote Hilfe und gegen die Isolationshaft. Als Mitarbeiter des Anwalts Klaus Croissant wird er Beobachter des Stammheim-Prozesses. Er verknallt sich in Brigitte Mohnhaupt, deren Erscheinung ihn zu der Feststellung verführt: „Sie war einmal mehr ein lebender Beweis meiner These, dass die RAF in erster Linie eine Frauengruppe war: messerscharf analysierende, knallharte, wunderschöne, erotische Frauen - die Frauen der Zukunft, hier war der Anspruch, ‚Fokus der neuen Gesellschaft‘ zu sein, bereits verwirklicht.“

1980 wird CW wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 15 Jahren Haft verurteilt, unter Auflagen kommt er 1987 frei. Claus Peymann holt ihn auf die Bühne, und bald filmt er wieder, u.a. für das Fernsehen. Obwohl die Gesellschaft für ihn nach wie vor ungerecht ist, lehnt CW heute „Gegengewalt“ ab. Mit den Notaten seiner Tagebücher ermöglicht er im vierzigsten Herbst nach 1977 eine unverstellte Rückschau auf die damaligen Geschehnisse, empfindet Alfons Huckebrink

Biografie-Empfehlungen von Dezember 2017

Laurence Tardieu: So laut die Stille. Roman. Hamburg: edition fünf 2017

 

La liberté est un monument indestructible (Banner am Bataclan, 15. November 2015)

Kaum eine andere autobiografische Erzählung eignet sich so gut als vorweihnachtliche Dezember-Lektüre. Laurence Tardieu verwendet die eigene Biografie in besonderer Weise als Ausgangsmaterial ihrer literarischen Arbeit:

Sie selbst ist vierzigjährig schwanger, als ganz in der Nähe ihrer Wohnung in Paris der Anschlag auf die Zeitung Charlie Hebdo verübt wird. Zwölf Menschen, darunter ein Großteil des Redaktionsteams, ermordet von fanatischen Islamisten. Sie bangt um ihre Töchter, deren Schule sich in der Nähe des Tatortes befindet, und gerät in Panik, die sie minutiös beschreibt, als Fallen, als bodenloses Entsetzen, das Mitgefühl mit den Opfern, das Erschrecken über die Veränderungen des Zusammenlebens. Das Entsetzen greift ihren Körper an, sie hat Angst, ihr Kind zu verlieren. „Ich wusste nicht, was wir da gerade verloren. Ich wusste nicht, was beginnen würde.“ Während dieser Schwangerschaft werden weitere Anschläge mit vielen Toten folgen: der jüdische Supermarkt, der Konzertsaal Bataclan … Diese Vergegenwärtigung der Schrecknisse wird durch einen zweiten Erzählstrang aufgefangen. Sie schreibt an einem Roman, der in Südfrankreich verortet ist, in einem Haus direkt am Meer, welches ihren Großeltern gehört hat und welches nun verkauft werden soll. Erinnerungen an Vertrauen, an Liebe, an alltägliche Schönheit, an Einfachheit, Sicherheit, an ein Gefühl des Zuhause-Seins werden in betörenden Bildern evoziert. Von diesem Haus wird sich die Familie verabschieden, es soll verkauft werden, weil es finanziell nicht zu halten ist. Abschied und Verlust werden als nicht nur traurig, sondern gar bedrohlich erlebt und stehen stellvertretend für den Verlust eines Gefühls des Vertrauens und der Geborgenheit in der Gesellschaft. Tardieus Empathie mit den Opfern, die morgens genau wie sie selbst zur Arbeit gehen oder Einkäufe erledigen und am Abend nicht mehr leben, scheint detailliert auf und gleichzeitig grenzenlos. Ein dritter Erzählstrang beschreibt ihre Versuche, „die Freude“ (am Leben) wiederzufinden, begleitet von der Geburt ihres Sohnes und der Erkenntnis, dass trotz allem die Schönheit des einzelnen Lebens unendlich ist und jedes davon so wertvoll ist, wie es eben sein kann, und deshalb geschützt und geachtet werden sollte. Der Angst vor dem Terror wird die Suche nach der eigenen Freiheit entgegengestellt. Besonders wegen der einfühlsamen Schönheit ihrer Sprache und einer Humanität, die gerade in dunkler Zeit gut tut, wird das Buch von Gudula Ritz empfohlen.