Biografieempfehlungen aus dem Jahr 2015 

Biografieempfehlung Dezember 2015

Emil Nolde: Mein Leben. Köln:DuMont-Verlag, 2013, 3. Auflage.

Diese Autobiografie enthält vier verschiedene Werke, die ab dem sechsten Lebensjahrzehnt des Künstlers verfasst wurden und von den frühesten Erinnerungen bis zum Tod seiner ersten Frau Ada im Jahre 1946 reichen. "Mein Leben" ist entsprechend dieser verschiedenen Bände gegliedert: "Das eigene Leben" handelt von Noldes Kindheit und Jugend sowie seiner Entwicklung als Künstler mit seiner eigenen Art zu sehen und zu malen. In  "Jahre der Kämpfe" beschreibt er, wie er als Maler zunächst verkannt wurde und welche Sorgen und materielle Schwierigkeiten er zusammen mit seiner häufig kranken Frau Ada zu bestehen hatte. Trotzdem ließ er sich nicht von seinem Weg abbringen und war selbst von seiner Kunst überzeugt, ferner ermutigt und unterstützt von seiner ihn liebenden Frau. Dem Schreiben folgte er als einem inneren Bedürfnis, welches dem Malen eindeutig nachrangig war. Er versteht sich ganz und gar als Maler, sein Motto lautete häufig: "Maler male!" oder einschränkend "Ich schreibe dies als Maler nur", heißt es im Vorwort zum zweiten Band seiner Selbstbiografie und er wundert sich am Ende, dass ein richtiges Buch daraus geworden ist. Nolde schreibt in einer ungewöhnlichen, etwas schwer zugänglichen Sprache, der Sprache des Nordschleswigers, der zu Hause plattdänisch, in der Schule hochdeutsch und im Religionsunterricht hochdänisch gesprochen haben muss. Die Reflexionen seiner selbst und seiner Zeit erscheinen vielleicht aus heutiger Sicht begrenzt, jedoch muss man bedenken, dass Nolde als Sohn eines einfachen Bauern schon früh seine innersten Ziele in sich getragen und trotz widriger schulischer und sonstiger materieller Bedingungen auch erfolgreich umgesetzt hat. Seine Stärke ist sein differenziertes Wahrnehmungsvermögen, und so malt er sich und seine Lebenswelt und seine Zeit aus einer ungewöhnlich differenzierten subjektiven Ästhetik, die ihresgleichen sucht. Dieses findet sich auch in seinen Beschreibungen. Wenn er zum Beispiel in Berlin "Menschensklaven" beschreibt, so könnte das fast auf heutige, von ihrem eigenen Kalender gehetzte Großstadtmenschen zutreffen. Deshalb sind seine biografischen Ezählungen ein Spiegel der Zeit, wie man sie aus dem Auge eines Zeitgenossen wahrnehmen konnte, und da geben sie uns heutigen Lebenden Fremdes und Erstaunliches, aber auch Verbindendes zu entdecken. Besonders gelungen scheint mir die Beschreibung der Südseereise  (dritter Band), wo er und seine Frau an einer Expedition teilnehmen, um die Einwohner der deutschen Kolonien zu beschreiben. Er steht der Kolonialisierung trotz seines Auftrags äußerst kritisch gegenüber, sieht, dass alte Werte und Kulturen unwiderruflich zerstört werden und beschreibt innerhalb seiner Möglichkeiten die Menschen, denen er begegnet, mit großer Neugier, aber auch viel Empathie und Wertschätzung. Alles Fremde und Neue saugt er in sich auf und wird offenbar stark von dieser Reise inspiriert. Der vierte Band handelt vom Reisen, aber auch vom Seßhaftwerden, von Verblendung und Verfemung während der Nazi-Zeit. 1928 wurde mit dem fast zehn Jahre dauernden Bau des Hauses in Seebüll begonnen, welches heute die Emil Nolde Stiftung mit Museum beherbergt. Sowohl die Lektüre der Autobiografien als auch der Besuch des Künstlerhauses wird empfohlen von Gudula Ritz.

 

Biografieempfehlung November 2015

James Boswell, Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen. Zürich: Diogenes 1981

Nach dreieinhalb Jahren sollte in dieser bunten Galerie der Bio- und Autobiografien wohl endlich auch der Klassiker dieses Genres präsentiert werden, die Mutter aller Biografien, wie die Lebensbeschreibung des englischen Literaturpapstes Samuel Johnson (1709-1785), verfasst von seinem Freund James Boswell (1740-1795), von Enthusiasten auch bezeichnet wird. Längst ein Klassiker der Weltliteratur, wenngleich Johnson selbst nach seinem Tod weitgehend in Vergessenheit geriet. Seinem Lebenswerk indessen wird durch seinen Biografen ein bleibendes und kraftvolles Denkmal gesetzt. Dessen überwiegender Anteil besteht aus Zitaten festgehaltener Gespräche, denn bereits für die Zeitgenossen bestand Johnsons Hauptleistung im geselligen Gespräch, das er mit Scharfsinn und Witz beherrschte wie kaum ein anderer zuvor. Er avancierte zur legendären Figur, ein literarischer Tyrannosaurus, der mit seiner geistigen Überlegenheit in den Londoner Kneipen, aber auch in den literarischen Clubs seiner Zeit reüssierte. In Boswell fand er einen ebenso treuen wie fleißigen Protokollanten, der einerseits den Verlauf thematisch geschickt beeinflusste, andererseits die Äußerungen des zur Schwermut neigenden Sonderlings akribisch notierte. Johnsons Urteile zu den Grundwahrheiten des menschlichen Lebens gelten Engländern bis heute als Ausfluss gesunden Menschenverstandes und erhoben den Literaten zu einem veritablen Nationalheiligtum.

In einem Diskurs etwa über die Bedeutung der Liebe bei der Wahl des Ehepartners äußert sich Johnson wie folgt: "Ich glaube, die Ehen würden im allgemeinen ebenso glücklich - ja oft glücklicher -, wenn sie allesamt vom Lordkanzler angeordnet würden, unter gebührender Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse, aber ohne daß die Beteiligten irgend etwas dazu zu sagen haben."

Boswell hat nicht zuviel gesagt, als er sich rühmte, das ganze Land verjohnsont zu haben. Übrigens fand auch sein eigener Name als Verb Eingang in den englischen Sprachschatz: to boswellize heißt "die geringste Äußerung seines Abgottes eilfertig aufschreiben." Ein exorbitantes Lesevergnügen. Ein Buch, das man irgendwann einmal gelesen haben sollte, ist Alfons Huckebrink überzeugt.

Biografieempfehlung Oktober 2015

Rajs, Dina: Ein Riss war im Netz... da kam ich durch. Erinnerungen. Berlin: Edition Rugerup, 2015

 

"Zum Glück gab's den Wald.

Zum Glück keine Bäume."

(W. Szymborska)

 

Unter den vielen, mittlerweile und zum Glück vorliegenden Erinnerungen von Überlebenden der Shoah ist die Autobiographie der schwedischen Architektin Dina Rajs in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum Einen erlebte sie die Verfolgungen als Kind, gibt dessen unauslöschliche Eindrücke indessen wieder aus der Perspektive einer 65jährigen Frau, die sich lange dagegen gesträubt hat, mittlerweile aber einsieht, dass "diese Kindheitserinnerungen mich immer begleiteten und mein Denken und Handeln beeinflussten." Zweitens wird überdeutlich, von wie vielen Zufällen, glücklichen Fügungen, Augenblickslaunen und rettenden Eingebungen es abhing, ob jemand überleben konnte oder ermordet wurde. Überleben ist kein Verdienst. Bezeichnenderweise hat sie ihren Erinnerungen das ergreifende Gedicht "Alle Fälle" der polnischen Literaturnobelpreisträgerin W. Szymborska vorangestellt, aus dem oben zwei Verse zitiert sind.

Dina Rajs wuchs in einer glücklichen wohlhabenden Familie in Ruma auf, einem kleinen Ort, der nach der Niederlage Jugoslawiens gegen die deutsche Wehrmacht dem von der faschistischen Ustascha beherrschten Kroatien zufällt. Der Vater, den sie erst nach der Befreiung wiedersieht, gerät in deutsche Kriegsgefangenschaft. Um dem Wüten der Ustascha gegen Serben und Juden zu entkommen, flieht sie mit der Mutter nach Novi Sad zu deren Schwester und ihrem Mann. Die Hauptstadt der Vojvodina ist indessen dem mit Hitler verbündeten Ungarn zugeschlagen worden. Knapp entgehen sie den mörderischen Razzien vom 21. bis 23. Januar 1942, bei denen 3500 Personen ermordet werden; von Polizisten erschossen oder unter dem Eis der Donau ertränkt, darunter viele Kleinkinder. Ihre Mutter und sie schaffen es bis Budapest, geben sich als Christen aus, überleben die Pogrome der Pfeilkreuzler und der deutschen Besatzung. Sie erhalten Hilfe vom schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg. Nach der Befreiung Budapests durch die Rote Armee kehren sie nach Novi Sad zurück. Sie ist erst sieben Jahre alt. 

1968 reist Dina mit ihrem Mann Jovan nach Schweden aus. Als kleines Mädchen hat sie Schlimmes gesehen und erinnert sich daran. Eine Folge von Bildern bleibt in ihrem Innern lebendig. Einzelne Gräueltaten, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben, erfährt sie von anderen Personen, etwa von ihrer Tante Mila, die ihnen nach Budapest folgt und traumatisiert ist von den Eindrücken der Razzia. Zusammengetrieben kann sie mit ihrem Mann, einem Internisten, nur knapp entkommen. Aber  "da stand auch eine Nachbarsfrau mit ihrem Baby auf dem Arm. Eine unbekannte ältere Ungarin ging geade vorbei und die Nachbarin legte ihr schnell das Baby in den Arm." Bevor sie auf den Lastwagen steigen musste und an der Donau getötet wurde.

In einem aufschlussreichen Nachwort berichtet Dina Rajs über ihr Leben in Schweden. Sie wird Architektin und ist oft eingeladen, um an Schulen über ihre Erlebnisse zu berichten. Sie spricht auch vor Jugendlichen, die Identitätsprobleme haben und in ständigem Konflikt mit der Gesellschaft leben, vor traumatisierten Flüchtlingskindern oder Kindern, die mit psychisch gestörten Eltern aufwachsen. "Für uns gilt es, unsere Erfahrungen zu teilen. Das kann ein Blick sowohl auf die Vergangenheit als auch in die Zukunft vermitteln." Ihre Erinnerungen erscheinen 2007 in Schweden und sind jetzt endlich auf 151 Seiten und übersetzt von Gaby Müller-Oelrichs auch auf Deutsch zu haben. Ein wichtiger Lebensbericht, geschrieben von einer starken warmherzigen Frau und als solcher allen Lesern dieser Seite ans Herz gelegt. Alfons Huckebrink

Biografieempfehlung September 2015

Hiltrud Herbst, Anton G. Leitner (Hrsg.): Weltpost ins Nichtall. Poeten erinnern an August Stramm. Münster: Daedalus, 2015

Weltkrieg Eins: Am 1. September 1915 fällt der expressionistische Dichter August Stramm bei einem Angriff auf die Stellung Dnjepr-Bug-Kanal. Er wurde gerade 41 Jahre alt. Das Leben des Hauptmanns Stramm wird durch einen Kopfschuss beendet. Ein vergleichsweise leichter Tod, ist man schnell zu sagen versucht, die grauenhaften Berichte im Kopf, die das Verrecken nach einem Bauchschuss oder das qualvolle Verröcheln nach einem Gasangriff beschreiben. Einen Tag später wird er auf dem jüdischen Friedhof zu Horodec beigesetzt. 1916, als im Westen Hunderttausende junger Deutscher und Franzosen vor Verdun verbluten, findet in Berlin eine August-Stramm-Gedächtnisfeier statt, bei der Rudolf Blümner, Walter Mehring und Herwarth Walden aus seinen Texten vortragen. 1919 erscheint die Sammlung 'Tropfblut. Gedichte aus dem Krieg' in Waldens Verlag 'Der Sturm'.

August Stramm wird 1874 in Münster geboren. Sein Vater drängt ihn dazu, eine Ausbildung als Postsekretär zu absolvieren. Ab 1897 fährt er im Seepostdienst auf den Linien Hamburg-New York und Bremen-New York. An der Universität Halle-Wittenberg promoviert er 1909 mit einer Dissertation über das Thema 'Welteinheitsporto' und wird - Höhepunkt dieser postalischen Laufbahn - zum Inspektor befördert. Jedoch wird er bereits vor 1914 literarisch tätig und schreibt Lyrik und Dramen, die kaum Beachtung finden. Während des Krieges verfasst Stramm Gedichte, die er an den Freund und Verleger Herwarth Walden schickt, dem er am 23. März 1914 erstmals begegnet ist. Dieses Datum markiert den Beginn einer kurzen, äußerst fruchtbaren Schaffensperiode (Gedichte, Prosastücke, Dramen). Der Einfluss August Stramms auf die Poetologie nachgeborener Dichter (Ernst Jandl, Gerhard Rühm) ist evident. Seine radikalen Eingriffe in die syntaktische Statik und eine scharf ausleuchtende Tropik eröffnen den Weg in eine neue Dimension lyrischen Schreibens, das einerseits vor den Atrozitäten und verheerenden Peripetien des 20. Jahrhunderts nicht verstummen muss und andererseits von diesen geprägt wird. Eine Dimension lyrischen Schreibens also, in der die Sprache selbst entsetzt und zum Experimentierfeld wird.

Der Daedalus-Verlag legt zum 100. Todestag August Stramms eine bemerkens- wie lesenswerte Anthologie vor, in der über 60 zeitgenössische Autoren - etwa Brigritte Kronauer, Nora Gomringer, Friedrich Ani, Ulla Hahn - poetische Schlaglichter auf Leben und Werk des Sprachentsetzers werfen. Zudem enthält der Band zahlreiche Gedichte Stramms und stellt in eben dieser Konstellation eine komfortable Gelegenheit dar, sich mit dem Dichter, seiner Zeit und seinen Nachwirkungen vertraut zu machen. Eine anregende Lektüre, die in jedem Fall der Mühe wert ist, meint Alfons Huckebrink.

Biografieempfehlung August 2015

Sybille Bedford: Treibsand. Erinnerungen einer Europäerin. (München: Schirmer-Graf-Verlag, 2006)

Sybille Bedford wird zu Anfang des 20 Jahrhunderts als Tochter des Barons von Schoenbeck und einer Engländerin geboren. Als sie mit dem Schreiben dieser Autobiografie beginnt, ist sie bereits 91 Jahre alt. Der zeitliche Abstand gewährt ihr auch eine innere Distanz zum Erlebten, die man als Leser durchaus bemerkt, und zwar keineswegs im Hinblick auf emotionale Bedeutungen und Lebendigkeit des Beschriebenen, sondern im Hinblick auf ihre eigene Person, die sie reflektieren und hinterfragen kann, sowie im Hinblick auf einen empathischen Blick auf jene Personen, mit denen sie es schwer hatte. Beispielsweise gilt das für ihre Mutter, die wegen zahlreicher Affären häufig unterwegs war und die Familie schließlich verließ, als S.B. 3 Jahre alt war. „Als meine Mutter heiratete (1910), war noch genug vorhanden, daß sie ihrem Mann einen Landsitz kaufen konnte. Ein Schloß im Großherzogtum Baden. Ein ansehnliches Herrenhaus mit Park. Ein Familiensitz war es trotzdem nicht.“ (S. 63) Anfang der zwanziger Jahre lebte sie zunächst mit ihrem sehr zurückgezogenen und stillen Vater hinter den Schlossmauern, um welche die Inflation wütete. Mit ca. 9 Jahren riss sie dort aus und fuhr auf eigene Faust nach Frankfurt zu ihrer Halbschwester. Eine reguläre Schule besuchte sie nur kurz, immerhin lernte sie dort schreiben und ihr Berufswunsch war immer Schriftstellerin zu werden. Der Erfolg ließ lange auf sich warten, nicht, weil ihre Manuskripte nicht verlegt wurden, sondern weil sie zu wenig schrieb oder gar fertigstellte. Sie lebte recht lange vom Erbe ihres Vaters, bis die Nazis, nachdem sie aus dem französischen Exil einen kritischen Artikel veröffentlicht hatte, ihr Vermögen einfroren. Der plötzliche Tod des Vaters traf sie als Jugendliche und führte dazu, dass sie wie Treibsand mit ihrer Mutter oder durch sie veranlasst hin und her geweht wurde, von Rom nach Südfrankreich und nach London. Hier werden die Zeitgeschichte, zwei Kriege sowie der Wert tiefer und verlässlicher Freundschaften, beispielsweise zu Aldous Huxely und seiner Frau, und einer inneren und äußeren Unabhängigkeit verdeutlicht wie in keiner anderen Biografie. Aus der Not des frühen Verlassen – Werdens und der unvorhergesehenen Verluste entwickelte sich eine Existenz in innerer und äußerer Freiheit, wie man sie kaum in einer Biografie findet. Die Heirat mit dem schwulen Engländer Terry Bedford und damit verbundene Namensänderung sowie Änderung der Staatsbürgerschaft dienten dazu, dem Vichy-Regime zu entkommen. Einzigartig sind die Beschreibungen vieler interessanter persönlicher Kontakte zu zeitgenössischen Künstlern, einige davon im Exil, und eine menschliche, sehr persönliche Sicht einer Zeitzeugin. Auf dem Umschlagfoto ist sie in der Mitte mit Aldous Huxley, mit dem sie eine langjährige Freundschaft und Mentorschaft verband, zu sehen. Deshalb wird diese Autobiografie als einzigartiger Spiegel einer vergangenen Zeit und eines Lebens (S.B. starb 2006 in London) empfohlen von Gudula Ritz.

Biografieempfehlung Juli 2015

LOVE AND MERCY. Kinofilm

Biopic über den legendären Beach Boys-Musiker Brian Wilson.

Mit dieser Empfehlung einer Biografie-Verfilmung knüpfen wir an unseren Beitrag vom Monat Mai 2012 an, in dem wir auf das  Lebenswerk des Beach Boys Masterminds Brian Wilson (geb. 20.06.1942) hinwiesen.  Der Film „love & mercy“ greift nun authentische Ereignisse aus dem Leben B.W.s auf, der von seinem Vater genau wie die beiden Brüder  Dennis und Carl geschlagen und mit seelischer Grausamkeit in Form von Missachtung und Abwertung bedacht wurde. Ein Hieb des Vaters verursachte die Taubheit auf Brians rechtem Ohr. Der Film, seit Juni 2015 in den Kinos, zeigt neben der privaten Verstrickung mit dem skrupellosen Psychotherapeuten Dr. Eugene Landy, der B.W. finanziell ausbeutet und systematisch erniedrigt, um ihn zu kontrollieren, die Befreiung durch die couragierte Autoverkäuferin und spätere Ehefrau Melinda, also neben der privaten Lebens- und Liebesgeschichte mit diversen Rückblenden in die 60er und 70er Jahre ein Kapitel Musikgeschichte, das B.W. geschrieben hat. Weg vom Pop und hin zu einer Art einzigartiger Programmmusik, die nicht nur traditionelle Harmonien und Besetzungen kennt, sondern Musik als Tonmusik, als künstlerischer Ausdruck und Mischung von Geräuschen, Lauten und ungewöhnlichen Klangkombinationen, für die Wilson 2008 den Kennedy Award für sein Lebenswerk erhielt. Im Film wird er von zwei Schauspielern verkörpert, Paul Dano für die 1960er und John Cusack für die 1980er Jahre. Im musikalischen Mittelpunkt steht die Produktion des Beach Boys - Albums „Pet Sounds“, von dem Paul McCartney einmal völlig zu Recht meinte, ohne dieses wäre das Beatles-Meisterwerk „Sergeant Pepper’s“ nicht möglich gewesen. „Pet Sounds“ (1966), ein beharrlich verfolgter und akribisch umgesetzter Geniestreich, markiert die Abkehr Brian Wilsons vom leichten und beschwingten Surf-Sound der frühen 60er Jahre zu einer komplexen künstlerischen Positionsbeschreibung, durchgesetzt gegen viele Widerstände, vor allem auch seitens des Vaters. Keiner von ihnen konnte surfen, das verriet Brian Wilson kürzlich im Interview. Ihren Höhepunkt erreicht seine Kreativität mit dem Album „Smile“, das erst 2011, nach seiner Gesundung, komplettiert und veröffentlicht werden konnte.

Trailer

 

Empfohlen von Gudula Ritz und Alfons Huckebrink.

Biografieempfehlung Juni 2015

Ali Mitgutsch: Herzanzünder. Mein Leben als Kind. München: dtv, 2015

Eigentlich heißt er Alfons. Aber wenn er verdreckt und verschwitzt vom Spielen nachhause kommt, empfängt ihn seine Mutter mit den Worten "Oh Gott, wie schaust du denn aus! Wie der Ali Baba und die vierzig Räuber! Ja furchtbar, wasch dich sofort." Der Name bleibt im Gegensatz zum Schmutz an ihm hängen und so wurde aus Alfons der Ali Mitgutsch und unter diesem Namen kennen ihn Generationen von Kindern (und Eltern) als Schöpfer der beliebten Wimmelbilder. Geboren wurde er am 21. August 1935 in München-Schwabing und pünktlich zu seinem 80. Geburtstag hat er mit Unterstüzung seines Freundes Ingmar Gregorzewski nun die Autobiografie seiner Kindheit vorgelegt.

Faschismus, Luftangriffe, Nachkrieg prägen die Kindheitsmuster seiner Generation. Mitgutsch gelingt es vortrefflich, die angstbesetzte und von Entbehrungen gezeichnete Atmosphäre jener Jahre auferstehen zu lassen. Weil er einerseits nichts beschönigt, andererseits imstande ist, seine Erinnerungen historisch zu grundieren, gelingen ihm eindrucksvolle Schilderungen. Zwar gibt es idyllische Szenen wie das abendliche Bierholen für den Vater oder den "Familienpfiff" der Eltern, der die Kinder abends ins Haus ruft. Dennoch wird auch an dieser Autobiografie deutlich, dass das Konzept der Kindheit im Krieg suspendiert wird. Die Militarisierung der Gesellschaft. Die Denunziationen Andersdenkender. Der Vater, wenngleich nicht Parteimitglied, ist glühender Nazi, der ältere Bruder Wiggerl stirbt im Krieg durch einen russischen Scharfschützen. Die Angst im Luftschutzkeller, die Evakuierung auf einen Einödhof. Hunger, Kälte und hartherzige Bauern. Die körperliche Not und seelische Verwahrlosung dieser Generation von Kndern. Nach dem Krieg das Spielen in den Trümmern, die Invaliden auf den Straßen, die Tauschgeschäfte. In Alis Klasse etliche Jungen, die ihren Lebensunterhalt dadurch sichern, dass sie ihre Mütter an amerikanische GIs verkuppeln. Zwölfjährige Zuhälter, die sich auch selbst im Isarbad verkaufen.

Die Phantasie hilft ihm dabei, den Schrecknissen zu entkommen. Die Begegnungen mit der Kunst und der Liebe markieren den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden. In der Spitze eines Riesenrads auf der Auer Dult eröffnet sich ihm eine neue Sicht der Dinge. Gegen den erbitterten Widerstand der Mutter setzt er den Besuch der Graphischen Akademie durch. "Die 'entartete' Kunst war noch in aller Munde, war in den Köpfen vieler Menschen brandaktuell. Der Geist der Nationalsozialisten lebte auch bei diesem Thema nach der Befreiung ungeniert weiter." Schließlich entdeckt er bei Ria seine Fähigkeiten als 'Herzanzünder'; die Liebe zu den Frauen, die ihm sein verloren geglaubtes Selbstvertrauen zurückgeben, wird ihm unverzichtbar. "Ich staunte über diese Wandlungen. Ich traute mich. Ich bin ein Produkt weiblicher Zuneigung." Ausgesprochen lesenswert. Von Alfons Huckebrink

Biografieempfehlung Mai 2015

Julia Blackburn: Billie Holiday.

 

(04.1915-17.07.1959)

 

Diese Biographie unterscheidet sich sehr von anderen Biografien durch verschiedenste Merkmale. Sie ist vor allem nichts für allzu sensible Gemüter, denn Billie Holiday war zwar eine herausragende und einzigartige Künstlerin des Blues und Jazz, hatte in ihrem Leben jedoch viel Schweres und Leidvolles durchgemacht. Vieles von dem, was von ihrem Leben bekannt ist, geht auf eine „Autobiographie“ zurück, die der Ghostwriter William Dufty (Lady sings the Blues) im gerade aufkommenden Boulevard-Stil schrieb, der Verkaufszahlen wegen und vieles auf Veranlassung von Louis McKay, dem letzten Ehemann von B.H., auch um Kapital aus dieser Lebensgeschichte zu schlagen und um selbst als heroischer und treusorgender Ehemann dazustehen. Julia Blackburn versucht gar nicht erst, die widersprüchlichen Berichte zu einem einheitlichen Bild zu formen, sondern stellt B.H. aus der Perspektive ihrer Freunde, Kollegen, der New Yorker Polizei und sonstiger Zeitgenossen dar. Julia Blackburn tritt dabei in die Fußstapfen einer anderen, Linda Kuehl, die in den siebziger Jahren mit der Biografie begann, bei ihren mühevollen und langwierigen Recherchen u.a. Tonbandinterviews mit zahlreichen Zeitgenossen geführt hat und ihr Projekt wegen ihres Suizids nicht beendete. Abgesehen von den zahlreichen Ebenen und Perspektiven fließt zu Beginn auch die Perspektive der Autobiografin Julia Blackburn ein (wann und unter welchen Umständen hat sie B.H. zum ersten Mal singen gehört), die zumindest, was die Beziehung zu ihrer Mutter betrifft, einige Parallelen zu B.H. aufweist. Deren Mutter Sadie verlässt B.H. mehrfach, auch ganz zu Beginn, sie arbeitet gelegentlich als Prostituierte, hat wechselnde Partnerschaften, ist viel unterwegs, die frühe Kindheit verbringt B.H. bei der Mutter einer Schwägerin, die sie als Großmutter bezeichnet. Nach einer Vergewaltigung durch einen Nachbarn wird B.H. als 11jährige in eine von Nonnen geleitete „Besserungsanstalt“ eingewiesen, wo sie einige Zeit lebt. Sie erlebt Polizeiwillkür und Rassendiskriminierung in Harlem, NY, und der Leser kann die Entstehung der Jazzmusik als eigenständige und revolutionäre Musikrichtung mitverfolgen. Ihre späteren Männerbeziehungen sind immer ausbeuterisch bis gewalttätig, wobei sie das Opfer ist. Über ihren Drogenkonsum gibt es unterschiedliche Informationen. Sie konsumiert wie viele andere Musiker Drogen, ist aber später gerade wegen ihres beliebtesten Songs „Strange Fruits“, der die Lynchjustiz der weißen Bevölkerung im Süden anprangert, auf der schwarzen Liste der ehrgeizigen Ermittler und ist offenbar häufig Opfer von Verfolgung und Verleumdung. Ihr Gesang ist allen Widrigkeiten zum Trotz einzigartig und sehr beeindruckend, so dass das Zitat von Shakespeare aus „Ein Sommernachtstraum“ äußerst zutreffend ist „…ich will singen, damit sie sehen, dass ich mich nicht fürchte.“ Es könnte auch heißen…. „damit ich nicht so tieftraurig bin“. Mit fortschreitender Lektüre hat man als Leser immer mehr Facetten der Biografie kennen gelernt und kommt somit B.H. als Person zunehmend näher. Sehr beeindruckend ist der Filmclip aus dem Film "The Sound of Jazz", der B.H. in der seltenen großen Runde zeitgenössischer Jazz – Musiker zeigt, 4 Monate vor ihrem Tod, mit dem Song "Fine and Mellow". Auf diesen "Abschied" geht Julia Blackburn in ihrem letzten Kapitel ausführlich ein. Billie Holiday wäre im April diesen Jahres 100 Jahre alt geworden. Empfohlen von Gudula Ritz.

 

 

http://youtu.be/hhdYoWhBKhM

Biografieempfehlung April 2015

Fürstin Maria Wolkonskaja: Erinnerungen. Berlin 1979

Mit den Erinnerunen der Fürstin Maria Wolkonskaja (Bild von Nikolai A. Bestuschew) wartet diese Rubrik im April mit einer veritablen Trouvaille auf.

"An einem Dezemberabend des Jahres 1826 verlässt eine junge russische Frau ihr Heim, ihre Eltern und den kleinen Sohn, den sie ein Jahr zuvor geboren hat. Mascha oder Maschenka wird sie von ihren Angehörigen zärtlich genannt, ihr offizieller Name lautet Maria - Fürstin Maria Nikolajewna Wolkonskaja. Sie zählt zu diesem Zeitpunkt einundzwanzig Jahre." So beginnt das informative Nachwort zu den Erinnerungen der Fürstin, welche sie für ihre in Sibirien geborenen Kinder Michail und Elena verfasst hat. Sie ist eine gebildete Frau, auf deren Schönheit der mit den Dekabristen sympathisierende Dichter Alexander S. Puschkin jauchzende Verse verfasst hat. Jetzt folgt sie ihrem Mann in die Verbannung, den sie erst vor gut einem Jahr geheiratet hat und der soeben als einer der Anführer des Dekabristenaufstands zu 20 Jahren Zwangsarbeit und anschließender Strafansiedlung verurteilt worden ist. Die Dekabristen (von russ. dekabr=Dezember) sind hochrangige adlige Offiziere, die im Dezember 1825 auf dem Senatsplatz in St. Petersburg den Eid auf den neuen Zaren Nikolai I. verweigerten. Unnachsichtig werden die Verschwörer verfolgt. Fünf ihrer Anführer werden öffentlich gehängt, weitere 120 werden nach Sibirien verbannt. Ihren Männern auf dem bitteren Weg folgen 13 Frauen und Geliebte, die auf sämtliche Titel und ihr Vermögen verzichten müssen. In Sibirien wirken diese tapferen Frauen in vielfacher Hinsicht auf ihre Umgebung ein. Sie setzen sich ein für die ortsansässige Bevölkerung und deren Kinder; vor allem tragen sie dazu bei, dass die Dekabristen zu einer geschlossenen Gemeinschaft zusammenwachsen. Sie sichern den Briefwechsel mit den Angehörigen in Russland und erreichen es, dass die Dekabristen nicht, wie es im Kalkül des Zaren liegt, in Vergessenheit geraten, sondern auf Mitleid und zunehmende Sympathie zählen können. Letzteres regt sich nicht bei den Aufsehern und Beamten des Blagodotsker Silberbergwerks und später des Gefängnisses in Tschita, die ihre Instruktionen für die grausame Behandlung der Gefangenen von Nikolai I. höchstselbst erhalten. Dem ist der Schrecken in die Glieder gefahren und während seiner gesamten 30jährigen Regierungszeit wird ihn die nachhaltige Erinnerung an den Aufstand unruhig schlafen lassen. Denn wie die kluge Fürstin Wolkonskaja präzise konstatiert, muss dieser als erste "Aufwallung eines reinen, uneigennützigen Patriotismus" gewertet werden. "Bis zu diesem Zeitpunkt kannte die russische Geschichte nur Beispiele für höfische Verschwörungen, deren Teilnehmer rein persönliche Vorteile suchten."

Die Erinnerungen der Fürstin zeichnen ein lebendiges anschauliches Bild von den Lebensbedingungen im kalten fernen Osten des Zarenreichs. Ihr Stärke liegt in der dokumentarischen Genauigkeit der Schilderungen. Ihre Sprache ist geprägt von Anteilnahme und jener uneigennützigen Solidarität, die sich unter den Dekabristen und ihren Angehörigen entwickelte. Wir werden bekannt gemacht mit den persönlichen Schicksalen der Verschwörer gegen ein autokratisches Zarenregime, gegen Leibeigenschaft, Polizeiwillkür und Zensur. Angerührt verfolgen wir, wie die Ankunft der Frauen in Sibirien den in Ketten geschlagenen Zwangsarbeitern neuen Mut und Zuversicht verleiht. Viele von ihnen sterben in Sibirien, so auch 1855 der Marineoffizier und Maler Nikolai A. Bestuschew, von dem einige schöne Portraits und Ansichten stammen, die meiner Ausgabe (Buchverlag Der Morgen, Ostberlin) beigefügt sind.

Wollen Sie ebenfalls zu diesen Erinnerungen greifen, so sollten Sie in eine überschaubare antiquarische Recherche eintreten. Dort sind sie aber immer noch leicht zu bekommen. Eine geringe Mühe, die sich für Sie auszahlen wird.

Versichert Sie Alfons Huckebrink

Biografieempfehlung März 2015

Ulrike Müller: Bauhaus-Frauen. Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design. Berlin: Insel TB, 2014.

Diese Empfehlung unterscheidet sich von den bisherigen Empfehlungen unserer Sammlung, da nicht eine einzelne Person im Mittelpunkt einer biografischen Betrachtung steht. Dieses Buch enthält eine Sammlung von Biografien unterschiedlicher Personen, die jedoch zwei Merkmale gemeinsam haben: Sie sind Frauen. Sie lernten und lehrten an den berühmten Bauhaus-Schulen in Berlin, Weimar und Dessau, bevor diese von den Nationalsozialisten 1933 geschlossen wurden. Und so vermittelt dieses Buch ganz nebenbei ein Stück Kunst-, Kultur- und Zeitgeschichte, die an den Biografien der einzelnen Frauen sichtbar wird. Außerdem erhält man einen interessanten Einblick in die verschiedenen Künste. Die Abschnitte sind nach künstlerischen Bereichen von den eher traditionellen Frauenkünsten Weberei über die Keramik bis hin zum Metalldesign unterteilt. Hierbei leisteten die Bauhaus- Schulen den Betrag von der rein gestaltenden Kunst zum "neuen Sehen", zum modernen Industriedesign. Die Bauhaus-Frauen standen dabei im Schatten der Bauhaus-Gründer und -Leiter wie Gropius, Itten, van der Rohe usw. Die Eigenständigkeit ihrer künstlerischen Leistung wurde in vielen Fällen nicht entsprechend geachtet. Obwohl sich das Bauhaus einem modernen Menschenbild verschrieben hatte, benötigten die zahlenmäßig unterlegenen Frauen viel Talent und Durchsetzungskraft, um in die entsprechenden Abteilungen als Schülerinnen aufgenommen zu werden oder gar eine Leitungsfunktion zu ergattern, denn es klaffte überwiegend eine große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, was die Anerkennung von Frauen als künstlerische Expertinnen betraf. Hier seien nur einige Biografien skizziert: Gertrud Grunow (1870-1940) nahm mit ihren rhythmisch-musikalischen und muldomodalen Übungen moderne Kunsterziehung und -philosphie vorweg. In ihrer Arbeit ging es um Persönlichkeitsbildung, sie trat nicht mit eigenen Kunstwerken an die Öffentlichkeit. Obwohl sie als Vorläuferin moderner Musik- und Kunsterziehung gelten kann, begann schon während ihrer Arbeit am Bauhaus der zunehmde Bedeutungsverlust, der durch die leidvollen Kriegsjahre noch verstärkt wurde. Gunta Stölzl (1897-1983) war eine der erfolgreichsten Bauhaus-Frauen, sie leitete über viele Jahre die Weberei und vollzog die Entwicklung zum modernen Industriedesign. Ihre 2. Ehe mit dem Architekten Arieh Sharon führte zu Anfeindungen seitens nationalsozialistisch gesinnter Schüler und schließlich zu ihrer Emigration in die Schweiz, wo sie verblieb und 1983 in Küsnacht starb. Auch Anni Albers, aus einer jüdischen Familie stammend, emigrierte und hatte in den USA große Erfolge als international anerkannte Künsterlin, sie brachte das Bauhaus-Design in die USA und starb dort 1994 mit 94 Jahren. Otti Berger, ungefähr gleichalt, die ein unglaublich plastisches Verständnis für Texturen besaß, wurden 1944 in Auschwitz ermordet. Alle Frauen des Bauhauses sind auf ihre eigene Art herausragend als eigenständige Künstlerinnen, weshalb der Autorin großer Dank und Anerkennung gebührt, dass sie ihnen in dieser Sammlung von Biografien zu etwas größerer Bekanntheit verholfen hat. Empfohlen von Gudula Ritz.

 

 

Biografieempfehlung Februar 2015

Johannes Willms: Bismarck. Dämon der Deutschen. Anmerkungen zu einer Legende. München: dtv, 2015

 

Am 1. April jährt sich der Geburtstag des 'Eisernen Kanzlers' zum zweihundertsten Mal, ein Jubiläum, das auch publizistisch überschwänglich gewürdigt werden wird. Über Bismarck sind bereits unüberschaubar viele Biografien erschienen, nicht wenige davon stehen in meiner privaten Sammlung. Wirkten sie fast alle an der Kontur eines Bismarckbildes mit - sind damit so oder so ihrer Entstehungszeit verhaftet - so befasst sich die 1994 erstmals erschienene und nun mit einem neuen Vorwort wieder vorgelegte Darstellung von Johannes Willms, der bereits mit luziden Betrachtungen zur Französischen Revolution oder Napoleon auf St. Helena überzeugen konnte, explizit mit Entmystifizierung und der Dekonstruktion jener Legende, an der Bismarck selbst gehörig mitschrieb und zu der auch bereits das eingangs zitierte Epitheton gehört. Vielleicht ist diese Lebensbeschreibung deshalb so überaus spannend zu lesen. Zudem erweist sich Willms wieder als feiner Stilist und erfreut durch pointierte Darstellung der Stofffülle. Gut ausgesuchte Zitate vermitteln einen schönen Eindruck von der tropisch aufgeladenen und mit zahlreichen Invektiven gespickten Sprache des 'Reichsgründers'. Willms stutzt den viel gepriesenen Staatsmann Bismarck auf sein Format als intelligenten Hasardeur und bornierten Interessenvertreter des junkerlichen Preußens zurecht, dessen autokratisch angelegtes Herrschaftssystem früher oder später an den ihm innewohnenden Widersprüchen zerbrechen musste, und belegt nachdrücklich die 'machthungrige Skrupellosigkeit' des Politikers Bismarck. Als dessen größte Fehler mit weitreichenden, am Ende katastrophalen Folgen stellt er die Annexion Elsaß-Lothringens (1871) und die obrigkeitsstaatliche Ausfertigung des wilhelminischen Kaiserreiches dar. Nicht Preußen musste dazu in Deutschland aufgehen, variiert er ein Diktum des ersten Reichskanzlers, sondern Deutschland in Preußen. Und genau hier wird Bismarck zum Dämon der Deutschen, genau hier ist der Beginn einer Traditionslinie angelegt, die von Bismarck über Wilhelm II bis zu Hitler reicht. Was oft übersehen wird: Zwischen der Kaiserkrönung Wilhelms I (1871) in Versailles und der Machtübertragung an Hitler liegen gerade mal 62 Jahre. Ein gewisser Hindenburg kämpfte als junger Leutnant bei Königgrätz (1866) und verlieh als seniler Reichspräsident Hitler am Tag von Potsdam (21.03.1933) die preußischen Weihen.  Ein sehr lesenswertes Buch, empfohlen von Alfons Huckebrink 

Biografieempfehlung Januar 2015

Jean-Claude Ellena: Der geträumte Duft. Berlin: Insel-Verlag, 2012

Jean-Claude Ellena, der Chefparfümeur von Hermes, führt ein Jahr lang Tagebuch und beschreibt darin seine Arbeit als Parfumeur, skizziert den kreativen Prozess, seine Arbeitsweise, seine Vorlieben und seinen Alltag. Er versenkt sich so in die Suche nach dem neuen, von ihm visionierten "geträumten" Duft. Dabei versucht er sich von den Gesetzen des Marktes freizumachen, die ein geringes Spektrum bereits erfolgreicher Parfüms vorgeben. Er geht nicht nach Listen oder Formeln vor, sondern assoziativ. Der olfaktorische Sinn ist der früheste Sinn unseres Erfahrungsgedächtnisses, er kann wie in einer Zeitreise Erinnerungen aus lange zurückliegender Zeit hervorbringen und ganze Bilder und Geschmacksrichtungen hervorrufen. Ellena versteht sich hier als Schriftsteller der Düfte, und sein Notizbuch, an dessen Extrakten er seinen Leser teilhaben lässt, ist produktiver Teil seiner kreativen Arbeit. Wer einen Einblick in diese ungewöhnlich anregende Arbeitswelt gewinnen möchte und etwas über die Düfte lernen möchte, dem sei dieses Buch empfohlen, von Gudula Ritz.