Biografie-Empfehlungen  aus 2016

Die Biografieempfehlung des Monats Januar 2016

Der Fall Clara Immerwahr. Leben für eine humane Wissenschaft. Gerit von Leitner. München: Beck 1993

Immerwahr. Sabine Friederich. München: DTV 2004

 

Das Leben der Clara Immerwahr ist aus heutiger Sicht überaus interessant: aus wissenschaftstheoretischer Perspektive, aus der Gender-Perspektive und nicht zuletzt aus subjektiv-menschlicher Sicht. Sie wurde 1870 als Tochter eines Gutsbesitzers in der Nähe von Breslau geboren. Ihr Vater war promovierter Chemiker, lebte jedoch von der Landwirtschaft. Clara Immerwahr ist in ihrem Leben mehrfach gegen den Strom  geschwommen. Sie promovierte als erste Frau an der Universität Breslau in physikalischer Chemie, und das zu einer Zeit, in der Frauen weder zur höheren Schulbildung noch zur Universität zugelassen waren. Sie konnte sich der Unterstützung ihres Vaters sicher sein, unbeirrt ihren Weg zu gehen und ihrem „inneren Wesen“ zu folgen. Sie heiratete einen Kollegen, Fritz Haber, und wurde gleich nach der Hochzeit schwanger. Von diesem Zeitpunkt an versuchte sie, die Rolle als Ehefrau und Mutter mit ihren beruflichen Neigungen zu vereinbaren. In diesem Bestreben wurde sie von ihrem Ehemann zunächst nur halbherzig, wenn überhaupt, unterstützt, später jedoch kontinuierlich abgewertet und ausgegrenzt. Fritz Haber war von extremer Gleichgültigkeit seiner Familie gegenüber und von brennendem Ehrgeiz beseelt. Schließlich arbeitete er maßgeblich an der Erfindung der ersten chemischen Waffen, die im 1. Weltkrieg viele Opfer durch einen grausamen Gastod forderten. Obwohl durch permanente Missachtung und Herabwürdigung geschwächt, ließ Clara Immerwahr nicht nach, diese Art der Anwendung der Wissenschaft in Frage zu stellen. Schließlich wird sie von ihrem Mann als Vaterlandsverräterin bezeichnet. Das letzte Mal schwimmt sie gegen den Strom, als sie sich 1915 mit der Dienstwaffe ihres Mannes erschießt und somit, da sie für sich keine Lebensperspektive mehr erkennt, ein Zeichen setzen will. Ihr Mann fährt dessen unbeirrt am folgenden Tag an die Ostfront. Claras Abschiedsbriefe wurden nicht gefunden und offenbar vernichtet. Die Hausangestellten haben die Briefe gelesen. Ihr Tod wurde als Tod einer psychisch beeinträchtigten Frau dargestellt. Leider zeichnet der Unterhaltungsroman von Sabine Friederich, überwiegend im Inneren Monolog geschrieben, genau dieses Bild einer schwer depressiven Frau, die sich nur mühsam zum letzten Ausweg aufraffen kann. Die Biografie von Gerit von Leitner ist viel detaillierter und wird Clara als eigenständiger Persönlichkeit eher gerecht, jedoch in seiner Genauigkeit eher in Berichtform verfasst und z.T. mühsam zu lesen. Da das Leben Clara Immerwahrs unabhängig von dessen Darstellung auf jeden Fall inspirierend und bedenkenswert ist, sollte man diese Mühen auf sich nehmen. Trotz genannter Einschränkungen empfohlen von Gudula Ritz.

 

 

Die Biografieempfehlung des Monats Februar 2016

Ruth Klüger: Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus vor dem Deutschen Bundestag

„Im Steinbruch frieren Kinder in der rostigen Luft“ lautet eine Zeile aus dem „Landschaftsgedicht“, das die damals 13-jährige Zwangsarbeiterin Ruth Klüger über ihre Zeit 1944/45 im Arbeitslager Christianstadt schrieb. Sie wollte damit „diese traumhafte und gestaltlose Öde“, Eindrücke eines Zustands, den „Inbegriff des Arbeitslagers, wie ich es erlebte“, beschreiben. Als Gastrednerin in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus schilderte die heute 84-jährige US-amerikanische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Ruth Klüger am Mittwoch, 27. Januar 2016, ihre Erlebnisse in dem Frauenlager.

Bereits im Februar 2014 dokumentierten wir in dieser Rubrik die Rede von Daniil Granin zum Gedenktag. Auch das Zeugnis von Ruth Klüger stellt eine eindrückliche Lektüreerfahrung dar und sollte weite Verbreitung finden. Alfons Huckebrink

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Die Biografieempfehlung des Monats März 2016

Alex Capus (2015). Reisen im Licht der Sterne. München: Hanser Verlag.

„Reisen im Licht der Sterne“, diesen inspirierenden Titel wählte der Autor für eine Biografie, die das Leben des Schriftstellers Robert Louis Stevensons nicht nur beschreibt und empathisch nachzuvollziehen versucht, sondern vollkommen neu interpretiert. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Zeit, während der RLS, Sohn eines wohlhabenden schottischen Ingenieurs und Leuchtturmbauers, die Beziehung zu Fanny, einer verheirateten Frau und Mutter, anknüpft, und der gemeinsamen Jahre auf Samoa, wo sich RLS unvermittelt niederlässt und bis zum Ende seines nur 44jährigen Lebens bleibt. Während er in San Francisco auf die Scheidung Fannys von deren Mann wartet, erfährt er zufällig von einer Schatzinsel, Cocos Island, auf der der geraubte Kirchenschatz von Lima versteckt sein soll. Cocos Island ist eine nahe Costa Rica gelegene Insel, die zahlreiche Schatzsucher anlockt, ein Schatz wird doch dort jedoch niemals gefunden. Diese Geschichte inspiriert den an Tuberkulose erkrankten RLS zu seinem weltberühmten Bestseller „Die Schatzinsel“.

Die Lebenserzählung beginnt auf einer Südseereise des inzwischen verheirateten Paares, mit der Überfahrt und dem Anlanden in Samoa, und wird eingebettet in die rezente Geschichte der Insel, sichtbar durch zahlreiche Wracks der in einem Hurrikan gestrandeten Kriegsschiffe der deutschen, amerikanischen und französischen Kolonialmächte, welche durch dieses Ereignis an einem kriegerischen Konflikt gehindert wurden.

Nachdem er anfangs nur mäßig von Samoa begeistert ist, kommt es innerhalb kürzester Zeit zu einem rätselhaften Meinungsumschwung. RLS kauft ein Grundstück und wird den Rest seines Lebens auf Samoa verbringen. Noch viel mehr Rätselhaftes bringt die gründliche Recherche von A. Capus zutage, und es ergeben sich offene Fragen und Hypothesen, die mit detektivischer Sachlichkeit und zugleich spannend vorgetragen werden. Die Insel Tafahi, nur einen Segeltag von Samoa entfernt, hieß in früheren Zeiten Cocos Island und käme als möglicher Ort der realen Schatzinsel in Frage. Warum leben RLS und seine Familie das Leben reicher Müßiggänger? Ist es möglich, dass RLS nicht nur die Geschichte der Schatzinsel niederschrieb, sondern die reale Schatzinsel in der Nähe von Samoa gefunden hat? Hat er den sagenhaften Schatz entdeckt? Eine Biografie, die viel Spannung verspricht und trotz aller Geheimnisse eine persönliche Nähe zu RLS vermittelt.Empfohlen von Gudula Ritz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Biografieempfehlung des Monats April 2016

Patti Smith: M Train. Erinnerungen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016

Von allen lebenden Musikern ist die am 30. Dezember 1946 in Chicago geborene Patti Smith vielleicht die beste Schriftstellerin. Lesen, Lesen, Lesen! In ihrem Werk beweist die These, wonach der Weg zu einem guten Schreiber über intensive Lektüre führt, wieder einmal zeitlose Evidenz. Dazu: Kaffee, Kaffee, Kaffee! Ebenso maßlos wie der Lesehunger gestaltet sich ihr Kaffeekonsum. Beides passt wohl nicht schlecht zusammen und bereits Ende der 60er Jahre veröffentlicht die heute gern etwas plakativ als 'Godmother of Punk' apostrophierte Patti ihre ersten Gedichte in Zeitschriften wie 'Rock and Cream', noch vor dem Erscheinen ihrer ersten Single 'Hey Joe' (1974).

Der soeben auf Deutsch erschienene zweite Teil ihrer Autobiographie - 2010 bereits ihr Buch 'Just Kids' - nimmt den Leser mit in die 1980er Jahre und spannt den zeitlichen Bogen bis in die Gegenwart. Sie lernt ihren Mann Fred "Sonic" Smith, Gitarrist bei der Gruppe MC 5, kennen, heiratet ihn 1980 und lebt mit ihm in Detroit. Sie haben zwei Kinder und 1994 stirbt Fred überraschend an Herzversagen. Auf der Trauerfeier singt sie 'What a wonderful world' von Louis Armstrong und kehrt zurück nach New York. Die Erinnerungen an Fred und an ihre gemeinamen Reisen prägen dieses Buch. Seine eindrucksvollen Bilder, welche die Autorin auch aus ihren Träumen bezieht, fügen sich assoziativ zu einem schillernden Zeitensemble, das den Leser in mehrfacher Hinsicht berührt. Zum Einen erschließt er sich die Dimension ihrer Trauer um den gestorbenen Mann und die nicht mehr realisierbaren gemeinsamen Pläne, zum Anderen genießt er Patti Smiths jeder Einzelzeile angemessene Eigentümlichkeit des Stils - gewiss auch ein Verdienst der Übersetzerin Brigitte Jakobeit -; und zuetzt eröffnen sich ihm Zugänge zum Schaffen bedeutsamer Schriftsteller. Sie besucht das Grab Jean Genets in Larache (Marokko), Paul Bowles oder William S. Burroughs hat sie persönlich gekannt. Zu den Gräbern anderer Größen pilgert sie unverdrossen, wie zu dem Bert Brechts in Berlin, Sylvia Plaths in Heptonstall oder Akutagawa Ryunusokes in Japan. Von überall her bringt sie ihre Polaroid-Aufnahmen mit, mit denen die Autobiographie reichlich ausgestattet ist. Ihre Lieblingsräume indessen befinden sich in Cafés, die sie in der ganzen Welt aufsucht und hier vorstellt. Im kleinen Café 'Ino im Greenwich Village nimmt sie ständigen Aufenthalt. Es entwickelt sich zu ihrem zweiten Wohn-, besser Arbeitszimmer. Als es überraschend schließt, schenkt ihr der Besitzer den unscheinbaren Tisch mitsamt dazugehörigem Stuhl, an dem sie immer gesessen, gelesen und ihre diversen Listen aufgeschrieben hat.

Lesen, lesen, Lesen!, vielleicht bei einer Tasse Kaffee, lautet abschließend auch die Empfehlung an den geneigten Besucher dieser Rubrik. Besteigen Sie den Mental Train. Von Alfons Huckebrink

 

Die Biografieempfehlung des Monats Mai 2016

Jens Andersen, Astrid Lindgren. Ihr Leben. München: DVA 2015.

Diese 2015 erschienene Biografie wirft einen sehr differenzierten Blick auf Person und Persönlichkeit Astrid Lindgrens. Nach umfangreichen jahrelangen Quellenstudien und zahlreichen Interviews zeichnet Jens Andersen ein spannendes PORTRAIT der Kinderbuchautorin und lässt doch Rätsel offen, gibt Widersprüchlichkeiten Raum. Trotz differenzierter Beschreibung und empathischer Analyse gerät es so wie im realen Leben: Nicht jeder Anteil einer Persönlichkeit kann erklärt und bis in die letzte Facette verstanden werden. Die Leser lernen Astrid Lindgren hier in einer Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit kennen, die sie selten in einer Biografie antreffen. 

Andersen beginnt mit der Fanpost, die A.L. bis ans Ende ihres Lebens engagiert und, soweit es ihr möglich war, bearbeitet hat. Das zeigt, dass sie Leser ernst nahm und sich wirklich für sie interessierte. Dann wird zurückgeblendet auf die Jugendzeit, in der AL mit 17 ein lustiges Leben führt, als “neugierige, eifrig lesende junge Frau“, die gerne tanzen geht und sich eines Tages die Haare kurz schneiden lässt (à la garçonne), was in der Kleinstadt einen regelrechten Skandal auslöst. Wenig später beginnt sie bei einer Lokalzeitung, der Vimmerby Tidning als Voluntärin zu arbeiten. Nur kurz wird auf die glückliche und naturverbundene Kindheit in einem Dorf auf Småland eingegangen, die offenbar eine Vorlage für Kontexte späterer Werke ist. Es wird Bekanntes aus dem Leben der Schriftstellerin beschrieben:  Die Liebesaffäre mit ihrem 50jährigen Vorgesetzten, der zu dieser Zeit in Scheidung lebt, die ungewollte Schwangerschaft, die Geburt ihres ersten Sohnes in Kopenhagen, wo sie den Namen des Vaters nicht angeben muss, Entbehrungen, Schuldgefühle und die Sehnsucht nach ihrem Sohn, der mehrere Jahre bei einer Pflegemutter aufwächst. Sie heiratet später Sture Lindgren, ihren Vorgesetzten beim schwedischen Automobilclub, bei dem sie in Stockholm als Sekretärin arbeitet. Endlich kann sie ihren Sohn Lasse zu sich nehmen und bekommt noch eine Tochter. Der Durchbruch als Schriftstellerin, die Erfolge, die Filme, eine Ehekrise und Tod des Ehemanns - diese bekannten biografischen Milestones werden bei Andersen durch eine völlig neue historische und gesellschaftspolitische Perspektive zusammengeführt, der ein differenziertes Quellenstudium vorausgegangen ist. Von Anfang an ist das literarische Werk von AL emanzipatorisch, antiautoritär (Pippi Langstrumpf) und erhebt die Kinderliteratur zu einem neuen Genre. Zunächst apolitisch und überzeugte Sozialdemokratin wirkt sie später eher in der Rolle einer politischen Journalistin am Sturz des sozialdemokratischen Regimes mit, das ihr zunehmend sozialbürokratisch erscheint. Diese Wendung steigert sich bis zum Wirken einer politischen und umweltbewussten Aktivistin, um in späteren Werken (Ronja Räubertochter) eher philosophische Gedanken einfließen zu lassen. Obwohl sie selbst verschiedene gesellschaftspolitische, entwicklungspsychologische und philosophische Sichtweisen in die verschiedenen Phasen ihrer künstlerischen Tätigkeit einfließen lässt, vertritt sie einen zutiefst undogmatischen Standpunkt. Eine gezielt pädagogische Absicht in ihren Büchern lehnt sie ab und wendet sich gegen zeitgenössische sozialistische Kinderliteratur, die unbedingt politisch sein solle. Alle Formen der Literatur haben ihre Berechtigung, die künstlerische Freiheit besitzt die höchste Priorität, vegetative Ruhe, Konzentration und Naturverbundenheit sind zentrale Voraussetzungen. Im Oktober 1978 wird AL der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Die klare Botschaft „Niemals Gewalt“ findet großen öffentlichen Zuspruch. Die Veranstalter, denen die Rede vorab zugesandt worden ist, bitten sie, den Preis entgegenzunehmen, und sich „kurz und gut“ zu bedanken und auf die Rede zu verzichten. Man erwarte einige politische Würdenträger bei der Verleihung des prestigeträchtigen Preises. Daraufhin kündigt sie an, den Preis unter solchen Umständen nicht persönlich entgegenzunehmen, und stattdessen den schwedischen Botschafter als Stellvertreter für den kurzen Dank zu schicken, und darf dann doch schließlich ihre „Friedensrede“ ungekürzt halten. Die Biografie wird abgerundet durch ein bebildertes Werkverzeichnis mit den ursprünglichen Titelbildern, deren Grafiken einen besonderen Reiz ausmachen. Empfohlen von Gudula Ritz

 

Die Biografieempfehlung des Monats Juni 2016

Sigrid Damm, Christiane und Goethe. Eine Recherche. Frankfurt a. M.: Insel 2005

"Ich gng im Walde / So für mich hin, / Und nichts zu suchen, / Das war mein Sinn." lautet die erste Strophe des Gedichts 'Gefunden', das Johann Wolfgang von Goethe 1813 seiner Frau Christiane schrieb, der er 25 Jahre vorher im Park an der Ilm in Weimar erstmals begegnet war. Am 6. Juni jährte sich ihr Todestag zum 200. Mal.

Seit 1806 ist Johanna Christiana Sophia Vulpius die Ehefrau des Dichters. Sie heiraten am 19. Oktober in der Sakristei der Jakobskirche, nachdem sie bereits 18 Jahre in freier Liebe zusammengelebt haben. Christiane hat fünf außereheliche Knder geboren, von denen lediglich der erstgeborene August noch lebt. Nach ihrem frühen Tod schweigt sich Goethe über ihre 28 Jahre währende Beziehung weitgehend aus. Von zeitgenössischen und nachgeborenen Goethe-Verehrern wird ihr Lebensbild durch permanentes Bashing, wie man heute wohl sagen würde, herabgesetzt. Thomas Mann wird sie später 'un bel pezzo di carne' nennen, ein schönes Stück Fleisch, 'gründlich ungebildet'.

Erst Sigrid Damm, versierte Kennerin der Goethe-Zeit und exzellente Erzählerin, hat mit ihren 2005 als Buch erschienenen Recherchen eine Umbewertung von Christianes Lebensleistung bewirkt. Sie fragt in diesem Werk danach, wer Christiane Vulpius, Goethes Ehefrau, wirklich war und was sie ihm als Partnerin hat bedeuten können. Wo immer es möglich ist, lässt sie Christiane selbst sprechen - eine Frau mit einer erstaunlich direkten Sprache für ihren Körper, ihre Sexualität; eine Frau, die unablässig tätig ist und Goethe den Rücken freihält. "Sie kann einen Schlitten kutschieren. Geht allein auf Reisen, trägt zwei Pistolen bei sich. Sie ißt gern, trinkt gern, am liebsten Champagner. Sie tanzt ausgezeichnet, als Fünfundvierzigjährige nimmt sie noch bei einem Tanzmeister Unterricht. Sie liebt die Komödie, weniger das Lesen. Heiter ist sie, witzig, stets gutgelaunt." Andererseits leidet sie unter dem Tod ihrer Kinder, sie wird lebenslang gequält von Krankheiten wie Bluthochdruck und Nierenproblemen. In der feinen Gesellschaft von Weimar rümpft man über sie die Nase. Sie ist ständig überfordert, weil sie eine Rolle spielen muss, für die sie nicht geschaffen ist.

Die Beisetzung, der Goethe fernbleibt, findet auf dem Jakobsfriedhof statt. Auf ihrer Grabplatte finden sich seine Verse: „Du versuchst, o Sonne, vergebens, / Durch die düstren Wolken zu scheinen! / Der ganze Gewinn meines Lebens / Ist, ihren Verlust zu beweinen.“ Mit ihrer präzis recherchierten und akkurat fabulierten Darstellung versteht es Sigrid Damm, dem Leser das Leben der Christiane Vulpius nahezubringen und in dessen Beziehung zu Goethe gleichzeitig ein tieferes Verständnis für Leben und Werk des Dichters zu wecken. Das opulent angerichtete Werk wird von zahlreichen Antiquariaten zu einem günstigen Preis angeboten und ist zu jedem allemal der Lektüre wert, meint Alfons Huckebrink.

Die Biografieempfehlung des Monats Juli 2016

Beate und Serge Klarsfeld: Erinnerungen. München: Piper 2015

"Wir werden sie aufspüren, wo immer sie auch sind." (Beate und Serge K.)

Von der spektakulären Ohrfeige auf den Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, mit der Beate K. 1968 dessen Nazivergangenheit ins öffentliche Bewusstsein rückt, bis zur Verleihung des Bndesverdienstkreuzes 1. Klasse am 20. Juli 2015 in der deutschen Botschaft in Paris - auch mit diesen bekannten Wegemarken wird die Fülle gemeinsamen Lebens des deutsch-französischen Ehepaars Beate und Serge Klarsfeld lediglich angededeutet. Gut und hilfreich, dass jetzt ihre gemeinsamen Erinnerungen auch auf Deutsch vorliegen. Liebesgeschichte, Zeitgeschichte, Justizgeschichte - all das und noch viel mehr steckt in den mit zahlreichen Fotos versehenen, ebenso informativen wie bestürzenden 610 Buchseiten. Verständlich wird dem Leser das gut abgestimmte und von einer lebenslang andauernden Grundhaltung getragene, gemeinsame Handeln, das den Opfern des Holocausts und ihren Hinterbliebenen verpflichtete Agieren zur Bestrafung der Schlächter und Schreibtischtäter. Eine Gemeinsamkeit, deren Intensität Serge K. in diese Worte fasst: "Zusammen sind wir stark und glücklich. Ohne den anderen sind wir nichts."

In der Öffentlichkeit werden sie schnell unter dem plakativen Begriff 'Nazijäger' bekannt, eine flache Metapher, in gewisser Hinsicht jedoch zutreffend, da sie etliche der untergetauchten Täter in ihren Verstecken in nah und fern aufspüren und aufscheuchen. Aus den zahlreichen, im Buch erzählten Fällen, seien hier zwei hervorgehoben. Zunächst der Kölner Prozess gegen die SS-Offiziere Herbert Hagen, Kurt Lischka und Ernst Heinrichsohn, alle drei in Paris verantwortlich für die Deportation Tausender französischer Juden in die Vernichtungslager Osteuropas, Letzterer bis zu seiner Entdeckung angesehener Anwalt in und Bürgermeister von Miltenberg. Am 11. Februar 1980 werden sie zu Gefängnisstrafen verurteilt und müssen ihre Haft sofort antreten.

Zweitens der nach langen Verzögerungen in Bordeaux stattfindende, aufsehenerregende Prozess gegen Maurice Papon, der am 2. April 1998, mehr als 60 Jahre nach Verübung seiner Untaten zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wird und diese Strafe, obwohl er sich ihr zunächst durch eine Flucht in die Schweiz zu entziehen sucht, auch antreten muss. Papon, ein hoher Beamter des Vichy-Regimes, nach dem Krieg u.a. Finanzminister und Polizeipräfekt von Paris, war in Bordeaux verantwortlich für die Deportation der jüdischen Bevölkerung in das Sammellager Drancy. 

Wieviel Energie, Mut, Kraft, Lebenszeit und Geld mögen Beate und Serge K. in die Aufspürung und Verurteilung untergetauchter Naziverbrecher gesteckt haben! Einges davon wird in ihren Memoiren greifbar. Der Leser ist dankbar, dass nun alles nachzulesen ist und bewahrt worden ist in diesem einzigartigen Zeugnis ihrer Erinnerungen. Ans Herz gelegt von Alfons Huckebrink 

Die Biografieempfehlung des Monats August 2016

Frances Spalding: Virginia Woolf. Leben, Kunst & Visionen. München / Berlin: Sieveking 2016

Im Allgemeinen lege ich bei der Lektüre von Biographien wenig Wert auf illustratives Beiwerk. Hinsichtlich der vorliegenden Darstellung zu Leben und Werk Virginia Woolfs erkenne ich gerne die bezwingende Ausnahme an. Mehr als das muss diesem opulent ausgestatteten Buch attestiert werden, dass es informative Qualität wie ästhetischen Reiz erst aus den Abbildungen und der Reproduktion von Fotos, Kunstwerken, Erstausgaben und Schriftproben bezieht. Was nicht verwunderlich ist, geht das sehr stimmige Ensemble von Text und Bild doch zurück auf die Ausstellung Virginia Woolf: Art, Life and Vision (2014) in der National Portrait Gallery.

Das von der ausgewiesenen Expertin Frances Spalding glänzend verfasste Werk liegt nun - und damit rechtzeitig zum 75. Todestag Virginia Woolfs - dank der adäquaten Übertragung durch Ursula Wulfekamp und Matthias Wolf auch auf Deutsch vor.

Der Leser taucht ein in die Kunst- und Literaturszene des frühen 20. Jahrhunderts, einer Zeit der kulturellen Neuerfindung Großbritanniens im Geist einer Avantgarde, die auf ewig mit dem Wirken der in der Bloomsbury Group versammelten Künstler und Intellektuellen verbunden sein wird. Er erlebt Virginia Woolf nicht nur in ihrer Entwicklung als Schriftstellerin und Essayistin, als Mitbegründerin und Betreiberin der Hogarth Press, sondern auch im immerwährenden Auf und Ab ihrer künstlerischen und persönlichen Beziehungen und dem daraus resultierenden geistigen Austausch. Ihr Freundeskreis umspannt ein breites Spektrum und reicht von bekannten Malern wie Duncan Grant über aufstrebende Schriftsteller wie T.S. Eliot bis zu renommierten Wissenschaftlern wie dem Nationalökonomen John Maynard Keynes.

Ihr Vater Leslie Stephen, ein Gelehrter von Rang und bekannter Schriftsteller, ist fest verwurzelt in der Kultur der viktorianischen Zeit. 1912 heiratet Virginia Stephen den Journalisten und Romanautor Leonard Woolf. Den Implikationen dieser Ehe spürt das Buch ebenso nach wie Virginias Beziehung zu der Schriftstellerin und Gartengestalterin Vita Sackville-West, der sie in der Romanbiographie Orlando ein unvergängliches Andenken schafft. Ihre letzten Lebensjahre sind überschattet von der nationalsozialistischen Bedrohung. Sie verliert einen Neffen im Spanischen Bürgerkrieg. Ihr langjähriges Haus am Tavistock Square wird im Oktober 1940 von einer Bombe getroffen und schwer beschädigt.

Virginia Woolf leidet zeitlebens unter schweren Depressionen, verbringt etwa 1915 mehrere Monate in einem Pflegeheim, schluckt eine Überdosis Barbiturate. Am 28. März 1941 bricht sie nachmittags zu einer Wanderung auf, hinterlässt auf dem Wohnzimmertisch drei Abschiedsbriefe, zwei für Leonard, einen für die ältere Schwester Vanessa. Ihre Leiche wird erst einen Monat später aus dem Fluss Ouse geborgen, die Manteltasche beschwert mit einem Stein. Bereits am Tag ihres Verschwindens findet Leonard ihren Spazierstock am Flussufer. Ihr letzter Roman Between the acts wird posthum veröffentlicht.

"Ich verbinde Struktur mit Handlungsverlauf & sagte deshalb 'Textur' ", vermerkt sie in ihrem Tagebuch über die Ästhetik des Romans. Ihre Werke erleben auch nach ihrem Tod zunächst nur kleine Auflagen. Erst allmählich setzt sich - zunächst in den USA, dann auch auf der Insel - die Erkenntnis durch, dass der moderne Roman ohne Virginia Woolf nicht denkbar ist. Zu Recht wird sie deshalb mit Brecht, Thomas Mann, Proust und Joyce auf einer Stufe gesehen und heute zu den entscheidenden Autoren des 20. Jahrhunderts gerechnet.

"Denken ist meine Art zu kämpfen." Es gibt zur Zeit kaum einen attraktiveren Weg, sich mit der Welt Virginia Woolfs vertraut zu machen, als durch die Lektüre dieses Buches. Lesen und genießen, meint Alfons Huckebrink.   

Die Biografieempfehlung des Monats September 2016

Lily Brett. Lola Bensky. Suhrkamp 2012

Lola Bensky ist das Alter Ego von Lily Brett, einer australischen Autorin, die inzwischen in New York lebt. Es handelt sich um einen autofiktionalen Roman, der in personaler Perspektive und nicht in Ich-Form geschrieben ist, aber wesentliche autobiografische Anteile enthält.

LB ist in einem Lager in Deutschland 1946 geboren, nachdem ihre Eltern, die im Ghetto in Lodz geheiratet hatten, in Auschwitz getrennt und später wiedervereint wurden. Danach wandert die nicht-religiöse jüdische Familie nach Melbourne/Australien aus. LB wird nicht, wie die Eltern erhofft haben, Juristin, sondern Journalistin für ein australisches Rock-Journal. Auch in anderer Hinsicht enttäuscht sie ihre Eltern, vor allem die Mutter, denn LB ist mollig, für das Kind einer Auschwitz – Überlebenden eine Ungehörigkeit. Sie selbst hat ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Körper, denn ihre Generation orientierte sich an Twiggy, dem damaligen Schönheitsideal, die sie ebenfalls interviewt.

Die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung ist ein zentraler Erzählfaden, wobei die fehlende Präsenz der Mutter, die, so nahm LB an, ihre Zeit mit den Toten verbrachte, den unzähligen Verlusten in ihrer Familie durch den Holocaust. Mit dem Vater unternimmt sie schöne Ausflüge in Zirkusse und Tivoli-Bars. Sowohl das genussvolle Essen als auch die Welt der Shows und der Glamour der Künstler bilden einen Kontrast zu den düsteren Ahnungen, die einzelne Äußerungen der Mutter hervorrufen. Möglicherweise fühlt sich LB gerade deshalb zur Welt der Stars und Künstlern hingezogen, die im Zentrum ihrer späteren Berufstätigkeit stehen. Hin und wieder werden die Auschwitz-Erzählungen der Mutter in die inneren Monologe eingestreut, die LB als junges Mädchen angehört hat und die sie überfordert haben.

Im Mittelpunkt des Romans stehen jedoch nicht die Auschwitz-Erlebnisse und die Konsequenzen transgenerationaler Traumatisierung, sondern die schwierige Selbstentwicklung der 19jährigen LB, die als Musikjournalistin um die Welt reist und die Stars der 60er und 70er Jahre interviewt. Die Entwicklung kann als Weigerung verstanden werden, sich durch die Gewalterfahrungen und Traumatisierungen beherrschen zu lassen und sich stattdessen den schönen Seiten des Lebens zuzuwenden. LB setzt in ihrem Roman Stars wie Jimmy Hendrix, Cher, Janis Joplin und vielen anderen ein literarisches und authentisches Denkmal, indem sie die Dialoge und Begegnungen mit ihnen erinnert und beschreibt. Auch war sie bei wichtigen Festivals und Clubauftritten der Stars zugegen und hat diese festgehalten.

Janis Joplin, die selbst eine komplizierte Beziehung zu ihrer Mutter hatte, meinte, LB müsse mollig bleiben, damit sie sich das Interesse ihrer Mutter erhalte.

Erst nach dem Tod ihrer Mutter nimmt sie diese nicht nur als Abwesende und Kontrollierende wahr, sondern kann um sie in einem unendlich schmerzlichen Prozess trauern. Dieser Prozess wird getragen von dem lebenslangen, über den Tod hinaus anhaltenden Bestreben der Tochter, die Mutter zu erlösen und von ihren Erlebnissen zu heilen, was sich als unmöglich erweist.

Das Buch liest sich spannend, da die Zeitebenen und Erzählfäden geschickt miteinander verknüpft werden und wechseln, bis zum Schluss bleiben immer noch offene Fragen.

Lily Brett wird im März 2017 auf dem Salon du Livre in Paris lesen und einen Preis entgegennehmen.

Sehr lesenswert, meint Gudula Ritz.

 

Die Biografieempfehlung des Monats Oktober 2016

Malmsten, Bodil (2001/2007): Der Preis des Wassers in Finistère. Wien: Deuticke-Verlag.

 

„Für jeden Menschen gibt es einen Platz, der zu ihm gehört.“ So lautet der Untertitel des Romans von Bodil Malmsten, einer Autorin, die im Februar diesen Jahres in Schweden mit 71 Jahren verstarb. Der Roman ist autobiografisch, er handelt davon, wie BM um die Jahrtausendwende Schweden verlässt und nach Finistère in der Bretagne aufbricht, um dort zu leben. Die Zeit der Immigration wird beschrieben, sie erzählt, wie sie ein altes Haus gekauft hat, mit Blick auf das Meer, und den alten verwilderten Garten nach ihren Wünschen anlegt. Der Leser taucht tief ein in das selbstvergessene Gärtnern, das Legen von Steinplatten, das Umgraben, Säen und Pflanzen der verschiedensten Gewächse, meist mit Blüten. BM erlebt und beschreibt dieses Leben als Paradies, das ein halbes Jahr andauert.

Traurig lesen sich diese Zeilen, die sie sechsundfünzigjährig schreibt, als sie Eichenschösslinge hegt: „In fünfundzwanzig Jahren bin ich erst achtzig und habe noch viele Jahre vor mir, in denen ich mich an meinem Garten erfreuen kann.“ Wie wir wissen, blieben ihr noch 16 Jahre, nicht ohne erneute Aufbrüche und Abschiede.

Sie wandert in ihren Erinnerungen zurück in die Kindheit in Schweden, hin- und hergerissen zwischen der mondänen Welt ihres Vaters und ihrer Großmutter väterlicherseits und dem bäuerlichen Leben mütterlicherseits, hier nennt sie die Großmutter „Momma“. Beiden Großmüttern ist dieses Buch gewidmet, beide Lebensspuren versucht sie in ihrem Garten zu vereinigen. Sie pflanzt Flieder (wie Momma) und Pfingstrosen (wie Großmutter).

"Lange, nachdem ich gestorben bin, wird es die Päonien geben, mit ihren gefüllten weißen Blüten, durch deren Blütenblätter sich rote Streifen wie Nervenbahnen ziehen.“

Die Sehnsucht nach diesem Ort, dem sich BM zugehörig fühlt, wird hier deutlich, aber auch die Sehnsucht, zu etwas Größerem zu gehören: dem unendlichen Meer, der unendlichen Zeit. Diese Haltung, die die Grenzen des eigenen Lebens überschreitet, kann man als Sinn beschreiben. Im Anlegen des Gartens wird für BM Sinn erfahrbar.

Madame C. beendet die paradiesische Zeit. BM hat bewundert gesagt: „Finistère ist so schön, man müsste ein Buch darüber schreiben!“, was Madame C. mit „genial!“ kommentiert und nun nicht locker lässt, bis alle Schreibblockaden überwunden und das Werk, was wir nun lesen können, fertig gestellt ist. Interessanter Wechsel der Ebenen, im Schreiben eines Textes über die Entstehungsgeschichte eines Werks zu erzählen. Es gibt noch einen Herrn Godot (den Klempner, der fast nie kommt) und einen Beinahe - Liebhaber, Monsieur Le R, dem Rosenkavalier.

Es handelt sich um das Logbuch einer Immigration in ein fremdes schönes Land, an einen geliebten wunderbaren Ort, um Veränderung, einer Suche nach Zugehörigkeit, Sinn und letztendlich nach künstlerischem Ausdruck. Empfohlen von Gudula Ritz

Die Biografieempfehlung des Monats November 2016

Alastair Brotchie: Alfred Jarry. Ein pataphysisches Leben. Bern / Wien: Piet Meyer Verlag 2014

 

Anzuzeigen ist ein kiloschweres Buch des Engländers Alastair Brotchie über den genialen Alfred Jarry, fein ausgestattet mit Skizzen, Fotografien und Zeichnungen. Es besticht durch Transparenz und einer, trotz seines Volumens, hohen Lesbarkeit. Wer war Alfred Jarry, den die meisten wohl vor allem durch sein schrilles schräges Drama "Ubu roi" kennen, das seit seiner skandalösen Uraufführung 1896 in Paris alle bis dahin geltenden Theaterkonventionen über den Haufen warf und bis heute gerne inszeniert wird? Eine effektvolle Initialzündung, die die Literatur- und Kulturgeschichte nachhaltig radikal beeinflusste. Jahre später erkannten die Dadaisten und Surrealisten in diesem ebenso verschrobenen wie genialen Chaoten ihren genuinen Wegbereiter.

Alfred Jarry lebte nur kurz; geboren 1873 im bretonischen Laval, wurde er von Freunden verwahrlost in seinem Zimmer in Paris gefunden. Er starb, gerade 34-jährig, am 1. November 1907 im L'Hôpital Charité an einer meningealen Tuberkulose.

Jarry wird zum Begründer der Pataphysik, die von ihm selbst als "Wissenschaft imaginärer Lösungen" beschrieben wird, was in der Konsequenz bedeutet, so Brotchie, dass "Theorien ihrer Originalität halber geschätzt werden sollen, unabhängig von ihren Bedeutungen oder ihrer Anwendbarkeit." In diesen Wendungen scheint das fantasievolle Grundmoment der Pataphysik auf, die immer auch eine anarchische Konnotation aufweist. Und was wäre als pataphysisches Medium geeigneter als die Literatur, als poetische Transmutation der Begriffe und Vorstellungen?

Eine Art Urerlebnis in Jarrys Leben findet wohl während eines banalen Schulalltags statt. 1888 kommt er in Rennes in die Klasse des Physiklehrers Hébert, den seine gesamte Umgebung nicht recht für voll nimmt. Er ist für seinen himmelschreiend chaotischen Unterricht bekannt und wird später deshalb versetzt. Für Jarry, damals ein ebenso aufsässiger wie aufgeweckter Schüler, wird dieser Lehrer geradezu zum Inbegriff des Grotesken und er nimmt ihn als Vorbild für die Theaterfigur König Ubu.

Trotz seiner Bekanntheit durch dieses Stück und seiner Mitarbeit an der Zeitschrift "Mercure de France" erweisen sich seine späteren Romane als finanzielle Flops. Jarry lebt bald unter erbärmlichen Verhältnissen in einer kleinen Hütte an der Seine. Er konsumiert massenweise Alkohol, beide Beine sind gelähmt, eine fortlaufende Clochardisierung.

Diese reich mit literaturhistorischen Details gespickte, klug aufbereitete Biografie bereitet das pure Lesevergnügen und wäre nicht zuletzt ein überaus entzückendes Weihnachtsgeschenk, meint Alfons Huckebrink

Die Biografieempfehlung des Monats Dezember 2016

Bruce Springsteen: Born to run. Die Autobiographie. München: Heyne 2016

"Mit zwanzig war ich kein Rebell mit Rennwagen, sondern spielte auf den Straßen von Asbury Park Gitarre und war bereits ein durchaus anerkanntes Mitglied derer, die um der Wahrheit willen 'lügen' ... ein Musiker, Künstler mit kleinem k."

Unter den zahlreichen Titeln, die der vergangene Bücherherbst im Segment (Auto-)biografie zur Marktreife brachte, ragen die Erinnerungen von Bruce Springsteen aus mindestens zwei Gründen hervor.

Zum Einen besticht der distanziert abgeklärte, (selbst-)ironisch durchwirkte Stil, der von einem Rockmusiker in dieser Eleganz nicht unbedingt zu erwarten gewesen wäre. Zum Anderen und aus ersterem resultierend werden dem Leser die Schwierigkeiten und Selbstzweifel, die eine Karriere als Rockstar begleiten und prägen,

authentisch vor Augen geführt. Vor allem ist es die Emanzipation des tagträumenden Jungen aus einem italienisch-irischen Arbeitermilieu, in dem die Hinwendung zur populären Musik ein pubertäres Wagnis und stets auch eine Fluchtbewegung darstellt. Die harte Schule von Auftritten mit der ersten Band The Castiles in YMCA-Kellern, College-Aulen und Vorstadt-Pizzerien ist Voraussetzung, um sich sowohl von den angesagten Doo Wop-Schnulzen als auch von den mächtigen Einflüssen der British Invasion (Rolling Stones, Beatles, Animals) oder eines Bob Dylans bei den Lyrics zu lösen.

Enthüllungen werden in dieser Autobiografie, die gespickt ist mit durchaus auch tragischen Episoden - einige der Musikerkollegen sterben in Vietnam, der Autor selbst entgeht trickreich einer Einberufung -, nicht gemacht. Sieht man von Springsteens Eingeständnis ab, an einer bipolaren Störung zu leiden. Die hat er allerdings auch in manchen Songs wie 'This Depression' aus dem 'Wrecking Ball'-Album von 2012 bereits besungen, deren Texte eben nicht einen ausschließlich fiktionalen Charakter besaßen.

Ein großartiges Buch, dessen 671 Seiten in der deutschen Ausgabe manch unterhaltsamen Winterabend versprechen, versichert Alfons Huckebrink.