Chronik aller Empfehlungen 2024
Die Biografieempfehlung des Monats Januar 2024
Baur, Eva Gesine: Maria Callas. Die Stimme der Leidenschaft. Eine Biographie. München: C.H. Beck 2023
Diese neue Biografie über die Jahrhundertsängerin Maria Callas beleuchtet neue Seiten des in mancher Hinsicht widersprüchlich erscheinenden Lebenslaufs von Maria Callas (MC), der in einer Beziehung jedoch geradlinig verlief, nämlich zu den beispiellosen Spitzenleistungen der Sängerin, die auf einem extremen persönlichen Ehrgeiz, aber auch auf einem einzigartigem Talent beruhten und die die Bezeichnung „künstlerisch“ verdient hatten, da die Persönlichkeit Marias in der Stimme und den entsprechenden Rollen ihren Ausdruck fand. Die vielseitig studierte und promovierte Autobiografin unterscheidet zwischen der Privatperson, die als „Maria“ bezeichnet wird und der "Callas“ als die öffentliche, ambitionierte Sängerin. Zwei Seiten einer Persönlichkeit, die in den sängerischen Spitzenleistungen ihre künstlerische Vereinigung und ihren Ausdruck fanden. Ihr Gesang führt den Blick durch die Jahrhunderte zurück zu den Ursprüngen der griechischen Tragödie, wie die Dichterin Hildegard Bachmann befand, als sie diese in Mailand einmal traf. MC triumphierte vor allem in tragischen Rollen, vielleicht auch, weil ihr eigenes persönliches Leben von Tragik gezeichnet war. Maria Callas Weg war kein leichter, sie kam aus armen und dazu schwierigen Verhältnissen als Rückkehrerin mit Mutter und Schwester aus den USA, wo sie geboren war, nach Griechenland. Maria war auch das ehrgeizige Produkt ihrer Mutter, die den Gesangunterricht unbeirrt aller Klassen- und Bildungsschranken unterstützte. Ihren Aufstieg erlangte sie im Land der Oper, in Italien, ihrer späteren Wahlheimat, zuerst in Verona, später an der Scala- wo sie sich gegen vielfältige Widerstände behauptete, auch deshalb, weil diese die Callas nicht zu beirren oder zu beeindrucken schienen. So heiratet sie 1949 Giovanni B. Meneghini, einen Unternehmer, in einer „Sturztrauung“ und wird seine lebendige Investition. Er ist vor allem ihr langjähriger Manager, während der langjährigen Ehe verwaltet er das zunehmende Vermögen. MC verfügt noch nicht einmal über ein eigenes Konto. Auch hier ist sie das Produkt der eher materiell ausgerichteten Ambitionen ihres Ehemannes. Nachdem sie in New York und auch in Chicago aufgetreten ist, wird sie das Produkt von Elsa Maxwell, einer Klatschreporterin, die in der Öffentlichkeit das Bild einer Diva zeichnet, die sogar ihre eigene Mutter verhungern lässt. Elsa Maxwell war eine mächtige Frau und brachte den damals so genannten „Jet Set“ einander näher, auf einer solchen Party hatte MC auch Aristoteles Onassis kennengelernt, in den sie später enttäuschte Hoffnungen setzte, der aber Anlass der Scheidung von ihrem Manager-Ehemann war. Persönliche Enttäuschungen säumten ihren Erfolgsweg, so war sie wirklich eine tragische und am Ende ihres Lebens einsame, sich ungeliebt fühlende Frau, auf deren Gesundheit niemand Rücksicht nehmen wollte. Ob gesund oder krank, sie musste immer singen, was dann zunehmend Ängste und Niedergeschlagenheit nach sich zog, heute würde man von Bournout sprechen. Im September 1977 starb Maria Callas nach einem Zusammenbruch während ihrer Proben zu einem Comeback in Paris. Über die Todesursache gab es widersprüchliche Mutmaßungen: Vielleicht hatte Pasolini, mit dem sie einen Film drehte und befreundet war, als Einziger erkannt, woran sie wirklich gestorben war. „Der Tod,“ […] „liegt nicht im Sich-nicht-mitteilen-Können, sondern im Nicht-mehr-verstanden-Werden. Ohne Resonanz hatte Maria Callas aufgehört zu leben“, so das Zitat im Schlusssatz der Biografie von Eva Gesine Baur. Eine interessante und die Selbstreflektion anregende Lektüre, zugleich musikhistorisches Wissen vom Feinsten, findet Gudula Ritz.
Die Biografieempfehlung des Monats Februar 2024
Eva Szepesi: Die Shoah begann mit dem Wegschauen der Gesellschaft. Rede im Deutschen Bundestag am 31.01.24
Ich weiß nicht, wie lange ich so da lag, doch irgendwann spürten meine vom Fieber brennenden Lippen eine Hand, die mich mit kaltem Schnee fütterte. Der Schnee tat gut, er stillte meine Schmerzen. Dann versank alles wieder im Dunkeln. Als ich das nächste Mal das Bewusstsein wieder erlangte, leuchtete ein feuerroter Stern über mir. Als mein Blick langsam klarer wurde, erkannte ich einen russischen Soldaten, der sich lächelnd über mich beugte. Die menschliche Wärme in seinem Blick tat mir gut. Es war der 27. Januar 1945 und ich lebte.
In bewegenden Worten schildert die 91-jährige Eva Szepesi, die als Diamant Eva am 29. September 1932 in einem Vorort von Budapest geboren wurde, den Moment ihrer Befreiung aus dem Vernichtungslager Auschwitz. In der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags an die Shoah am 31.01.24 sprach sie zu den Abgeordneten. In Zeiten, da eine mit dem Faschismus sympathisierende Partei dort vertreten ist, rief sie zu mehr Menschlichkeit auf und mahnte: Es war nie wichtiger als jetzt. Denn 'Nie wieder' ist jetzt.
Ihre erschütternde Rede ist abrufbar auf der Website des Deutschen Bundestags. Hier der Link zum Video:
Die Biografieempfehlung des Monats März 2024
Hans Joachim Schädlich: Felix und Felka. Hamburg: rororo 2023
Seit einigen Tagen haben wir eine Wohnung. Das ist sehr wichtig für mich, denn seit 5 Jahren pilgere ich von einem möblierten Zimmer in das andere. Die waren klein und hatten sämtlich grausam geblümte Tapeten. Gemalt habe ich an der Wand aus Platzmangel. Das soll nun aufhören. Es wurde auch Zeit.
(Felix an Ludwig Meidner, 31. Oktober 1937)
Der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich (*1935) hat der Reihe seiner historisch-biografisch angelegten Bücher (z.B. Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.) 2018 das Doppelportrait Felix und Felka hinzugefügt, das 2023 auch als Teil der Gesamtausgabe seiner Werke erschien. In diesem Roman schafft er eine in jeder Hinsicht beeindruckende biografische Annäherung an das Künstlerpaar Felix Nussbaum (1904-1944) und Felka Platek (1899-1944). Beide wurden in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Die Handlung setzt ein im Mai 1933. Nussbaum hat einen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom zugesprochen bekommen. Ein tätlicher Angriff des Malers Hanns Hubertus Graf von Merveldt (1901-1969) zwingt ihn, den Ort zusammen mit seiner Lebensgefährtin Felka Pletka zu verlassen. Eine Rückkehr nach Deutschland ziehen beide wegen der einsetzenden Judenverfolgungen nicht in Betracht. Im Weiteren schildert Schädlich den Weg des Paars bis zu seiner Ankunft in Brüssel, wo es eine Bleibe findet. Die belgische Hauptstadt wird 1940 von den Deutschen besetzt. Die Bedrohung durch die Besatzungsbehörden nimmt zu. Felix und Felka verstecken sich in einer Mansarde, werden schließlich denunziert und nach einer Zwischenstation im Sammellager Mechelen im Juni 1944 mit dem letzten Transport nach Auschwitz-Birkenau gebracht, wo dieser am 2. August 1944 eintrifft. Felka wird noch am selben Tag ermordet, Felix wird zunächst als arbeitsfähig eingestuft. Ein letztes Lebenszeichen von ihm datiert vom 20. September 1944. Zwischen diesem Tag und dem 27. Januar 1944, dem Tag der Befreiung des Lagers, muss er irgendwann ums Leben gekommen sein.
Schädlich gelingt es, in einem sehr konzisen, kunstvoll reduzierten Stil ein Künstlerleben unter den Zwängen rassistischer Verfolgung darzustellen. Durch die beinahe schmerzhaft anmutende, dialogbetonte Sachlichkeit seiner Reduktion gelingt es ihm, das Äußerste hervorzukehren. Er erzählt die Geschichte der beiden in präzisen Momentaufnahmen, z.B. ein Besuch bei James Ensor (1860-1949) in Ostende, und zwar nicht von ihrem Ende her, der Vernichtung in Auschwitz, sondern stellt die beiden in ihrem ganz privaten Umfeld sowie in ihrem Ringen um die eigene künstlerische Produktion dar, die in den letzten Jahren auch als Akt des Widerstands begriffen wird. Besonders verdienstvoll ist dies im Hinblick auf die Bedeutung Felka Plateks. Ist das Werk ihres Ehemanns seit seiner Wiederentdeckung in den 1980er Jahren zum Gegenstand umfangreicher Forschungen geworden und wurde ihm in seiner Heimatstadt Osnabrück ein sehr sehenswertes Museum geschaffen, so blieb Felkas Werk bislang weitgehend unbeachtet. Als Malerin nutzt sie die kurze Freiheit der Weimarer Republik mutig für eine selbstständige Lebensplanung und ihre künstlerische Entwicklung. Sämtliche Perspektiven werden ihr vom Nationalsozialismus zerstört. Sie wird zur Flucht gezwungen und schließlich zusammen mit ihrem Mann deportiert.
Schädlich selbst begreift sein Buch nicht nur als "Klage gegen das Naziregime", sondern ebenso als eine solche "gegen Antisemitismus und antijüdische Hetze in der deutschen Gegenwart." Auch unter diesem Apekt ein wichtiges und vorzüglich geschriebenes Buch, empfindet Alfons Huckebrink.
Die Biografieempfehlung des Monats April 2024
Karoline Hille: Gabriele Münter. Die Künstlerin mit der Zauberhand. Köln: Dumont-Buchverlag 2012
Karoline Hille, promovierte Kunsthistorikerin und Kuratorin, begann ihre Recherche nicht mit den Gemälden von Gabriele Münter (GM), sondern mit den Fotografien, die diese als junge Frau während ihrer Reise durch die USA auf den Spuren ihrer Familie gemacht hat. Die Fotos weckten das Interesse der Biografin an der außergewöhnlichen Künstlerin sowie am persönlichen Schicksal von GM, der die ihr zustehende Anerkennung für ihr Werk bis heute versagt geblieben ist. Das liegt zum Teil an der Diskriminierung der Künstlerin als Frau im Nachkriegsdeutschland, zum anderen an der Zurückhaltung und Bescheidenheit, welche die Persönlichkeit der Künstlerin ausmacht. Für diese Biografie standen wenige schriftliche Quellen, dafür aber ihr umfangreiches Werk zur Verfügung, welches die Biografin in seiner Entwicklung feinfühlig und mit kunsthistorischer Expertise nachzeichnet.
Der Biografie liegt ein kurzer autobiografischer Text von GM zugrunde, der in sieben Abschnitten als Zitat den sieben Kapiteln vorangestellt sind, so dass die Künstlerin jeweils selbst zu Wort kommt. Hierbei äußert sie sich an einer Stelle auch enttäuscht über die Tatsache, in ihrer Eigenständigkeit nicht gewürdigt worden zu sein. Dieser Text (Gabriele Münter über sich selbst) war im Vorfeld der großen Münchner Gedächtnisausstellung „Der blaue Reiter“ in der kurz zuvor gegründeten Monatszeitschrift „Das Kunstwerk“ 1948 erschienen. Dem revolutionären Künstlerkreis „Der blaue Reiter“ gehörte GM an und trug wesentlich zu dessen Entstehung und Aktivitäten bei, sie hat also Kunstgeschichte mitgeschrieben, wurde aber von der Kunstkritik im Nachkriegsdeutschland stets im Schatten der männlichen Maler-Kollegen, u.a. ihres Lebensgefährten Kandinsky, wahrgenommen und (ab-)bewertet. Dieser war jedoch selbst ein Bewunderer ihres Talents und ihrer Kunst. In diesem kurzen, aber bedeutenden autobiografischen Text äußert GM zurückhaltende, aber deutliche Kritik an der Bewertung und Einordnung ihrer Kunst durch das Publikum und selbsternannte Sachverständige. Die Biografie Karoline Hilles versucht GM als eigenständige Künstlerin zu würdigen. Der Schwerpunkt ihrer Betrachtungen liegt in der Entwicklung des Werkes in allen seinen Facetten mit vielen Quer- und retrospektiven Bezügen, weniger in einer genauen Chronologie des Lebenslaufs.
GM wird im Februar 1877 in Berlin geboren, wächst aber in Herford, der Geburtsstadt ihres Vaters, und später in Koblenz auf. Ihre Eltern stammen von deutschen Auswanderern ab und kehrten wegen des amerikanischen Bürgerkriegs aus den USA nach Berlin zurück. Sie wird als viertes Kind und Nachzögling der Familie geboren, für deren Unterhalt ihr Vater als „amerikanischer Dentist“ sehr gut sorgt. Sie zeichnet von Kindheit an und kann schon mit 14 Jahren mit Leichtigkeit Personen aus ihrem Umfeld zeichnerisch portraitieren. Die Biografin, wie auch Kandinsky, bescheinigt GM ein künstlerisches Talent, zunächst zum Zeichnen, welches ihr mit Leichtigkeit und treffsicher gelingt. Den Vater verliert sie bereits mit neun Jahren. Als 20jährige besucht sie die Kunstschule Erst Bosch in Düsseldorf und erhält Zeichenunterricht. Am Ende des gleichen Jahres, 1897, stirbt ihre Mutter. GM beendet die verschiedenen Ausflüge in die Kunstwelt. Mit ihrer älteren Schwester besucht sie für 2 Jahre ihre zahlreichen Verwandten in den USA mit verschiedenen Zwischenstationen. Hier entstehen unzählige spontane Zeichnungen, meist Portraits, sowie später auch meisterhafte Fotografien, deren außerordentliche Komposition das Interesse der Biografin weckte. Ihre Schwester hat ihr auf der Reise bald eine Kodak geschenkt. GM experimentiert mit Fotos zu einem Zeitpunkt, in dem das Fotografieren für jedermann gerade erst möglich ist und diese Technik auch die Malerei verändert. Die Verbreitung der Fotografie macht die naturalistische Malerei, insbesondere die Auftragsmalerei, überflüssig und bereitet den Weg für impressionistische und expressionistische Strömungen in der Kunstgeschichte. GM zeichnet und malt später häufig auch nach Foto-Vorlagen, gestaltet diese Vorlagen neu oder malt verschiedene Versionen des gleichen Motivs. Sie entdeckt in den USA die Spuren der Eltern und Großeltern für sich. Nach der Rückreise wird alles sorgfältig verpackt und gerät in Vergessenheit, bis es in den 50er Jahren wiederentdeckt wird und sogar zur Basis der einzigen Veröffentlichung wird. Zurück aus den USA, nimmt GM in München Malunterricht bei Wassily Kandinsky und seiner Malschule. Zu ihrem Lehrer entwickelt sich bald eine innige Liebesbeziehung, zunächst heimlich, da er verheiratet ist, und nach seiner Scheidung offen. Die Künstlergruppe vereint Werke von 12 Künstlern*innen, deren Ausstellung man als Geburtsstunde des Expressionismus und der Moderne in Deutschland betrachten kann. In allen Schaffensphasen ist GM außerordentlich vielseitig in den Ausdrucksformen und innovativ schaffend, dabei, wie die Biografin zeigt, von Beginn an eigenständig. GM hat seit dem Tod ihrer Mutter kein eigenes Zuhause gehabt und kauft schließlich 1931 in Murnau am Staffelsee ein eigenes Haus, wo sie zeitweise mit ihren Lebensgefährten zusammenlebt und arbeitet. Der Krieg zerriss unseren Kreis, so GM in dem autobiografischen Text. Während des ersten Weltkriegs lebt GM in Schweden und ist hier überaus erfolgreich. Kandinsky geht nach Moskau und distanziert sich zunehmend von ihr, bis es zur später Trennung kommt, ohne dass es für GM eine Klärung oder Aussprache gegeben hat. Nach der Rückkehr nach Murnau ist es sehr schwierig und mühsam für die Künstlerin, an die Erfolge der 20er und 30er Jahre anzuknüpfen. Die über 200 Blumenbilder des Spätwerks sind teils aus materieller Not entstanden, bewirken in ihrer Vielseitigkeit und Expressivität bei der Biografin und auch beim handverlesenen Publikum Erstaunen und Bewunderung. Höhepunkte sind neben der Ausstellung 1949 die BIENNALE in Venedig 1951, an der sie teilnimmt, sowie die Buchveröffentlichung ihrer Zeichnungen „Menschenbilder“ 1952 in einem renommierten Kunstverlag. Bei den Bemühungen um Ausstellungen, Wanderausstellungen und dem Verkauf ihrer Werke wird sie von ihrem Freund und späteren Lebensgefährten Johannes Eichner unterstützt. Sie stirbt 1962 im 86. Lebensjahr in Murnau, wo sie seit 1931 gelebt hat und während der Diktatur im Verborgenen gearbeitet hat, ohne meine Arbeit zu hemmen oder zu verbiegen. Eine Biografie, die neugierig macht auf ein Kunstwerk, dessen erneute Wiederentdeckung sich lohnen würde, meint Gudula Ritz.
Die Biografieempfehlung des Monats Mai 2024
Johann Konrad Eberlein: Albrecht Dürer. Reinbek: rororo 2003
Diese Biografie ist aus kunsthistorischer Perspektive geschrieben. Neben dem persönlichen Lebensweg Dürers (1471 in Nürnberg - 1528 ebda), dessen Beschreibung sich strikt auf die wenigen vorhandenen Quellen stützt und keinen Platz für Fiktives oder für Spekulationen lässt, geht es dem Biografen um die Stellung Dürers in der Kunst sowie um seine Persönlichkeit als Künstler.
Sein Vater war ursprünglich aus Ungarn nach Nürnberg gekommen; das inzwischen längst verschwundene Herkunftsdorf liegt im heutigen Rumänien, sein Name bedeutet auf Deutsch so viel wie 'Türe'. Ebenso zeigt das Familienwappen eine geöffnete Tür, daraus leitet sich der Name Türer- bzw. Dürer im Fränkischen ab. Albrecht Dürer, der Ältere, war Goldschmied, und bevor er sich in Nürnberg niederließ, hat er eine längere Zeit in den Niederlanden gearbeitet und schließlich die Tochter seines Meisters geheiratet. Sein Sohn Albrecht Dürer (AD), der Jüngere, pflegt später einen gewissen Exotismus in seiner Erscheinung, zumindest kann man dies auf den relativ zahlreichen Selbstbildnissen erkennen, und verweist möglicherweise hiermit auf seine südeuropäische Herkunft. In eine Goldschmiedefamilie hineingeboren, soll AD zunächst ebenfalls das Familienhandwerk erlernen und geht als Zehnjähriger bei seinem Vater in die Lehre. Dort lernt er einige wichtige Voraussetzungen der Zunft und erwirbt eine gewisse Geschicklichkeit, die ihm später bei seinen Radierungen und Kupferstichen zunutze sein werden. Auf eigenen Wunsch verlässt er die väterliche Werkstatt und wechselt die Lehrstelle: „Meine Lust trug mich mehr zur Malerei.“ Er tritt eine dreijährige Lehre bei Michael Wohlgemut an. Dieser gilt als der beste Maler Nürnbergs und lehrt u.a. die Technik Martin Schongauers sowie die Kunst der Druck-Grafik. AD wird der Erste sein, der überhaupt Selbstbildnisse fertigt, sein erstes bereits als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger. 1490 wird der etwa zwanzigjährige Dürer von seinem Vater auf Wanderschaft geschickt und hält sich vermutlich, anders als geplant bzw. vereinbart, im Oberrheinischen, z.B. in Basel, auf, wo er nachweislich an grafischen Veröffentlichungen mitwirkt. 1494 wird er - nach eigenen Worten - vom Vater zurückgerufen. Auf dessen Wunsch wird er kurz nach seiner Ankunft mit Agnes verheiratet, die eine erhebliche Mitgift in die junge Familie bringt. Drei Monate nach der Eheschließung bricht AD zu einer italienischen Reise auf und läßt sich vor allem in Venedig zu Werken inspirieren, in denen die italienische Renaissance und der darin vorherrschende Stil deutlich zum Tragen kommt. Nach der Gesellenwanderung und der Italienreise gelingt es Dürer, sich in Nürnberg als Maler zu etablieren. So erhält er Aufträge vom deutschen Fürsten Friedrich dem Weisen, entwickelt aber auch seine eigene Kunst weiter, die sowohl durch den fränkischen als auch durch den italienischen Stil geprägt ist. Die 1498 veröffentlichte Apokalypse ist ein großer Erfolg, neu an seiner Version gegenüber älteren von anderen Künstlern ist, dass die Grafiken einen größeren Raum als die Texte einnahmen, er kehrt das Verhältnis um. Auch seine Signatur hat die modernen Züge eines Markenzeichens und ist damals einzig- und neuartig.
Welche Merkmale an seiner Kunst neuartig sind und eine große Leistung darstellen, die AD als veritablen Künstler ausmachen, wird vom Biografen detailliert herausgearbeitet. Dürers Künstlerpersönlichkeit lässt sich kaum erschließen, es bleibt folglich bei Hinweisen: Er will von Anfang an vieles anders als sein Vater machen; in seiner Geschlechterrolle erscheint er offen und modern, auch was die Darstellung der Frauen betrifft (z.B. die berühmte Darstellung einer jungen Venezianerin). Seine Ehe allerdings bleibt kinderlos und gilt als unglücklich, was zu Spekulationen Anlass gibt; allerdings hätte eine offene bisexuelle oder homosexuelle Beziehung in Nürnberg gravierende juristische Folgen gehabt und wäre sehr gefährlich für ihn gewesen. AD zeigt eine tiefe religiöse Frömmigkeit und gleichzeitig Lust am Körperlichen, die sich in seiner Kunst zeigt. Seine Frau Agnes unterstützt ihn zeitlebens und zeichnet sich durch großes Verhandlungsgeschick und erfolgreiche Geschäftstätigkeit aus, sie managt und vermarktet die Kunst ihres Ehemannes. Nach seiner dritten großen Reise, die erneut nach Italien führt (1505-1507), versucht er als erster Künstler „Kunstregeln“ zu formulieren und zu veröffentlichen. Er betätigt sich als erster Künstler gleichzeitig als Kunsttheoretiker und formuliert beispielsweise eine Lehre von den Proportionen. Seine Meisterwerke haben viele Künstler und Schriftsteller inspiriert, z.B. Goethe und Bettina von Arnim.
Zum Künstlertum trage bei, was er als Mensch gefühlt, durchlitten und ausgedrückt habe, und entziehe sich exakter Interpretation durch Dritte, meint der sachkundige Biograf J.K. Eberlein. Eine nicht mehr ganz neue, aber informative und inspirierende Lektüre, ein Klassiker im Bereich der Künstlerbiografie, meint Gudula Ritz.
Die Biografieempfehlung des Monats Juni 2024
Wolf R. Eisentraut: Zweifach war des Bauens Lust. Architektur Leben Gesellschaft. (360 meist farbige Abbildungen). Berlin: Lukas Verlag 2023
Möglicherweise spiegelt sich das Suchen nach neuer gesellschaftlicher Identität auch in der Architektur der Zeit wider. So stehen verbreitete restaurative Architekturauffassungen, die Wiederherstellung verlorener Ensembles oder gar die Kopien abgerissener und seit langem verschwundener Bauten, insbesondere der Nachbau des ehemaligen Berliner Schlosses, für eine Sehnsucht nach heiler Welt. Welche denn?
Aufbau und Abriss. Rück- und Wiederaufbau. In der Architektur finden gesellschaftliche Entwicklungen wie politische Umwälzungen ihren sichtbaren und konkret erlebbaren Ausdruck. Ob man es nun mag oder nicht: Architektur geht alle an.
Da sie Lebenswelten zum Erlebnisraum gestaltet, werden ihre exponierten Projekte geradezu und wortwörtlich zum Schauplatz dieser Auseinandersetzungen. Der Architekt / die Architektin ist darüber hinaus in seinem /ihrem Gestaltungswilllen abhängig - und in der Regel wohl eingeschränkt - von den ästhetischen Prägungen wie vom Geldbeutel der Auftraggeber, seien es nun öffentliche Bauträger oder private Bauherren.
Und deshalb ist die Architektur eben leider keine freie Kunst. Der Idealfall einer Architekt und Auftraggeber verbindenden Kongenialität tritt selten ein.
Diese Vorgaben und Implikationen könnten Architektur und ihre erzählte Geschichte zu einer ebenso spannenden wie informativen Veranstaltung machen. Selten findet sich jedoch eine Darstellung, die diesem Anspruch gerecht wird und einer breiten Leserschaft Einblick in die Welt des Bauens verschafft.
Der Architekt Wolf E. Eisentraut (geb. 1943) lebt in Berlin. Er wuchs in Plauen auf, bereits sein Vater übte diesen Beruf erfolgreich aus. Im vergangenen Jahr legte er eine kurzweilige, mit zahlreichen Abbildungen ausgeführter Bauten oder von Arbeitsskizzen reich illustrierte Autobiografie vor. Zwei Architektenleben in einer Person - darauf spielt der Buchtitel an: eines in der DDR und eines im vereinigten Deutschland. In lockerer zeitlicher Abfolge berichtet Eisentraut über seinen Umgang mit politischen und wirtschaftlichen Zwängen, stellt Lust und Frust des Architektenlebens in zwei Gesellschaftsordnungen dar.
Eisentraut beginnt 1963 das Studium der Architektur an der TU in Dresden. Von 1968 bis 1971 ist er Mitarbeiter der Experimentalwerkstatt beim berühmten Hermann Henselmann (1905-1995), anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Wohnungsbau der Bauakademie der DDR. 1972/73 arbeitet er in verantwortlicher Funktion am Entwurf zum 'Palast der Republik' mit. Später ist er verantwortlicher Architekt für gesellschaftliche Bauten in Wohngebieten wie Berlin-Lichtenberg oder -Marzahn. Er erhält zahlreiche Auszeichnungen und wird 1988 als außerordentlicher Professor für Gesellschaftsbau an die TU Dresden berufen. Nach 1990 gründet er ein freies Architektenbüro und widmet sich der nachhaltigen Nutzung der Bestände mittels Umbau und Sanierung.
Ob an die Nordsee, nach Usedom, auf den Brocken, nach Sachsen und vor allem Berlin - die 3 Kapitel der Autobiografie, "Werden", "Wirken" und "Weiterbauen", nehmen den Leser / die Leserin mit zu den baulichen Zeugnissen des Architekten. Sie schildern, wie er in den Beruf hineinwuchs und ihn als Berufung begreift. Ein Leben nicht nur als Architekt im volkseigenen wie im privaten Büro, sondern auch als Hochschullehrer, Bühnenbildner, Moderator, Publizist und sogar Maurer. Wobei Letzteres mich wiederum an ein bekanntes Diktum von Adolf Loos (1870-1933) erinnert, wonach ein Architekt nichts anderes ist "als ein Maurer, der Latein gelernt hat." (in: Ornament und Erziehung, 1924).
Eisentrauts Betrachtungen weiten den Blick und stellen ästhetische Positionen in einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Es ist nicht gerade billig, aber jeden Euro allemal wert, konstatiert Alfons Huckebrink
Die Biografieempfehlung des Monats Juli 2024
Martin Strohmeyr: Uns gehört die Welt. Schreibende Frauen erobern die Fremde. 9 Portraits. München/Berlin: Pieper 2016
Sophie von La Roche (SLR, 1730-1807) ist eine bemerkenswerte, jedoch weitgehend in Vergessenheit geratene Frau, die erst im fortgeschrittenen Alter von über 50 Jahren zu reisen begann. Sie wird als Erste von Armin Strohmeyr in dem Band „Uns gehört die Welt“ portraitiert.
SLR wurde 1730 als ältestes Kind von 11 weiteren Töchtern geboren – ein Glück für sie, denn für eine Tochter war Bildung zur damaligen Zeit nicht vorgesehen. Obwohl ihr Vater Arzt ist und in Leiden und Tübingen studiert hat, denkt er in diesem Punkt traditionell. Aber erst das 13. Kind ist der ersehnte Sohn, und so will er die geistigen Fähigkeiten seiner erstgeborenen Tochter, die er durchaus erkennt, fördern.
Sie wird von klein an in vielen Fächern unterrichtet und darf dem Vater später auch als Bibliothekarin assistieren, aber die Aneignung von Latein bleibt ihr als Frau verwehrt. Als 17jährige verliebt sie sich in ihren Lehrer, den Italiener Bianoni, gegenüber dem der Vater später eine harte Trennung durchsetzt, da dieser Katholik ist. Diese traumatisch erlebte Erfahrung, so berichtet sie als alte Frau, war der Hauptantrieb für ihre spätere Arbeit als Schriftstellerin und die Beschäftigung mit der Frage: Welches ist die richtige Erziehung?
Danach lernt sie bei T.A. Wieland, einem Prediger, der sie unterrichten soll, dessen Sohn Christoph Martin (1733-1813) kennen und beginnt eine Romanze mit ihm. Die Beziehung kühlt sich später ab, als Christoph Martin zu Studienzwecken in der Fremde weilt. Erhalten bleibt indessen eine lebenslange Freundschaft. Einige Jahre später heiratet sie Georg Michael von La Roche, der sie gerade wegen ihrer Gelehrtheit schätzt und später ihre literarischen Ambitionen toleriert.
Am kurfürstlichen Hof, wo La Roche eine Stellung innehat, gilt sie als schöne und kluge Gesellschafterin. Sie bringt acht Kinder zur Welt, von denen fünf überleben. Im Frühjahr 1771 erscheint ihr erster, damals sehr erfolgreicher Erziehungsroman, die „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“, ein „Bestseller“, unter Pseudonym veröffentlicht. Zum ersten Mal in der Literaturgeschichte wird die Entwicklung eines empfindsamen Menschen aus der Sicht einer Frau beschrieben. Ihr Heim wird in den folgenden Jahren zum Anziehungspunkt der geistigen Eliten, des Bildungsbürgertums, u.a. ist der 23jährige J.W. von Goethe ihr Gast. Ihr Ehemann fällt nach der Veröffentlichung einer kirchenkritischen Schrift in Ungnade und verliert seine Stellung. SLR sorgt mit ihrer journalistischen und schriftstellerischen Arbeit für den Unterhalt der Familie. Mit über 50 Jahren beginnt sie - für eine Frau ungewöhnlich - mehrere größere Reisen, über die sie berichtet, u.a. in der von ihr herausgegebenen ersten deutschsprachigen Frauenzeitschrift.
Ihre Reisen führen sie nach Savoyen, nach Frankeich, Holland und England – derweil lässt sie ihren erkrankten Ehemann unter Obhut in Speyer zurück. Mit der Hilfe von Trägern ersteigt sie beispielsweise den Mont Blanc und bringt an verschiedenen Orten ihr Staunen zum Ausdruck, ihre Neugier scheint unstillbar und endet nicht bei den üblichen Sehenswürdigkeiten. Sie beobachtet und beschreibt auch das Leben der einfachen Leute, sie wird Zeitzeugin, über Landes– und Standesgrenzen hinaus. Sie erlebt beispielsweise die Feindseligkeiten des französischen Volkes gegenüber der Königin Marie-Antoinette aus der Sicht einer Anwohnerin. Leider stirbt sie mit 77 Jahren und ist zu diesem Zeitpunkt schon lange literarisch in Vergessenheit geraten.
In der empfehlenswerten Sammlung von Armin Strohmeyr werden neben SLR die folgenden acht Frauen portraitiert: Louise Seidler (1786-1866), Malwida von Meysenburg (1816-1903), Frieda von Bülow (1857-1909), Marie von Bunsen (1860-1941), Elisabeth von Heyking (1861-1925), Annette Kolb (1870-1967), Alma Karlin (1889-1950), Annemarie Schwarzenbach (1908-1942). Neun außergewöhnliche literarische Entdeckungsreisen, befindet Gudula Ritz.
Die Biografieempfehlung des Monats August 2024
Günther Anders: Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941 - 1966. München: C.H. Beck 1967
Als Odysseus sich bei der Kalypso aufhielt, hatte er doppelt Acht zu geben. Nicht nur darauf, Ithaka im Herzen zu behalten, sondern auch darauf, das Bild seiner Irrfahrten nicht zu vergessen.
Der Philosoph, Dichter und Schriftsteller Günther Anders (1902-1992), in Breslau geboren als Günther Siegmund Stern, flieht im März 1933 mit seiner damaligen Frau Hannah Arendt (1906-1975) nach Paris. 1936 reist er weiter nach New York, wo er sich mit allerlei Gelegenheitsjobs durchschlägt, bevor er 1950 nach Europa zurückkehrt.
Der 1967 veröffentlichte Band Die Schrift an der Wand verarbeitet u.a. Eindrücke einer Reise mit seiner dritten Frau Charlotte Zelka (1930-2001) nach Breslau und Auschwitz und enthält weitere Tagebuchaufzeichnungen aus den 40er Jahren und von der Rückkehr ins zerbombte Europa.
Eindrücke, die gerade heute wieder zur Kenntnis genommen werden sollten.
1941 findet Anders sich eingereiht in die Putzkolonne des 'Hollywood Custom Palace' in Los Angeles, reinigt und pflegt alle Arten von Kostümen von Karmeliterinnen-Trachten bis zu Napoleon-Outfits und macht sich Gedanken über seine mitunter skurril anmutende Tätigkeit.
So sehen also die Sorgen, Tragödien, Probleme und Hoffnungen aus, während drüben, jenseits der Ozeane, fern, aber wirklich, Hunderttausende einander abschlachten.
Die Emigration als geknicktes Leben.Als Patient in einem Krankensaal in New York gelingen ihm verblüffende Beobachtungen und erstaunliche Schlussfolgerungen.
Die Kluft zwischen unserem temporären Hiersein und dem Ewigsein hat immer als unendlich breit gegolten. Aber verglichen mit der anderen Kluft, der zwischen unserem endlichen Hiersein und dem Niedagewesensein, ist die erste eine quantité négliable.
Über Paris und Luxemburg kehrt er 1950 zunächst nach Wien zurück. ...als wenn nichts geschehen wäre, bezeichnet er das Verhalten der Menschen ihm gegenüber. Solange der Rückkehrer keine Ansprüche, etwa auf Rückerstattung, formuliert:
Wer seine Ansprüche nicht anmeldet, gilt als verdächtig: entweder als feige; oder als einer, dessen Fall faul ist; oder, da er so wenig Wert auf sein Eigentum legt, als ein Kommunist. Wer aber seine Ansprüche doch anmeldet, der ist ein Dieb. Und solche Leute scharf anzufassen und sie zu expropriieren-"bitte, Herr Doktor, Hand aufs Herz, hatte Hitler da so vollkommen Unrecht?"
Über ausgebombte Städte wie Köln und Frankfurt gelangt er nach Berlin und sinniert über die neu erwachte Leidenschaft für Ruinen. Angesichts der Gedächtniskirche:
"Malerisch" hatten wir Ruinen also genannt! Wie energisch die Wirklichkeit uns diese Kategorie abgewöhnt hat!
Den bewegenden Höhepunkt des Buches stellt indessen der Besuch im Hades, die Reise nach Auschwitz sowie in seine Geburtstadt Breslau, mittlerweile polnisch, dar. Er erinnert sich an das jüdische Mädchen Edith Stein (1891-1942), ehemalige Studentin seines Vaters, die in Auschwitz nicht als Nonne, sondern als Jüdin ermordet wurde. Den Prozess ihrer Heiligsprechung sieht er kritisch:
Ich kann mich nicht des Verdachts erwehren, daß der Vatikan Ediths Kanonisierung allein deshalb so ernsthaft in Betracht zieht, weil er das Bedürfnis verspürt, sich ein Alibi zu verschaffen.
Und allen deutschen Ansprüchen, etwa der ehemaligen Schlesier, die sich auf die Tatsache ihrer schlesischen Geburt berufen, auf Breslau erteilt er eine deutliche Absage. Anders verweist auf das maßlose Unrecht, dass den Polen angetan worden ist, darauf, dass das deutsche Aggressionsheer, von der SS zu schweigen, fast alle polnischen Städte verwüstet und jeden vierten Polen liquidiert hat.
Auf diesem ungeheuren Unrecht [...] basiert nun das Recht jener Polen, die überlebt haben. Und dies, ihr Recht darauf, sich in den Häusern des besiegten Eroberers, was heißt: in den 'Häusern', vielmehr in deren Ruinen 'häuslich einzurichten', ist genau so groß, wie das Unrecht gewesen war, das man ihnen angetan hatte: also grenzenlos.
Hin und wieder legen wir Ihnen in dieser Rubrik ein älteres Werk ans Herz, von dem wir annehmen, dass eine Lektüre gerade heute (wieder) lohnt, weil sie Durchblick ermöglicht. Die Schrift an der Wand ist ein Menetekel. Und genau deshalb stellt sie die Empfehlung des Monats August dar. Das Buch ist in verschieden Ausgaben antiquarisch leicht zu beschaffen, weiß Alfons Huckebrink.
Die Biografieempfehlung des Monats September2024
Douglas Abrams: Jane Goodall. Das Buch der Hoffnung. München: Goldmann Verlag 2021
Jane Goodall (JG) wurde im April 1934 in England geboren. Im Krieg aufgewachsen zu sein, lehrte sie nach eigenen Angaben vor allem Widerstandskraft als den Aspekt der Hoffnung sowie den Verzicht auf Konsumgüter.
Douglas Abrams, ein US-amerikanischer Journalist und Schriftsteller aus NYC, schrieb diese Biografie in Interviewform. Es waren drei Treffen mit JG vereinbart, die gleichzeitig neben der persönlichen Geschichte der beiden Interviewpartner, auch ein Stück Zeitgeschichte spiegeln sollten.
JG ist eine charismatische Persönlichkeit, die ihre Durchhaltekraft auch auf die schwierige Kindheit zurückführt, aber sie ebenso der rückhaltlosen Unterstützung und Liebe ihrer Mutter verdankt. Sowohl Liebe als auch Herausforderungen braucht es für die Entwicklung von Resilienz. Ihre Mutter war darüber hinaus auch die erste Person, die ihr bei den Feldforschungen in Tansania half. Die Interviews wurden zu drei verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten geführt. Lediglich das „mittlere“ Interview in den Niederlanden konnte allerdings planmäßig stattfinden. Das erste Interview fand in Gombe, TZ, statt, wo JG ihre Schimpansenbeobachtungen durchgeführt hat. Es musste abgebrochen werden, weil der Vater des Autors im Sterben lag. Das zweite Interview fand in einem Nationalpark in den Niederlanden statt. Das dritte Interview wurde 2021 wegen der Pandemie per ZOOM durchgeführt. Das Buch ist entsprechend in drei Hauptteile gegliedert. Der dritte Teil enthält mehr persönliche und biografische Elemente, u.a. aus der Kindheit JGs. Hier wird vor allem ihre Schüchternheit in den Mittelpunkt gestellt, die sie immer wieder besiegen muss, einfach „der Sache“ willen. Gerade die Kriegszeit während der Kindheit hat ihr gezeigt, dass der Faschismus besiegt werden kann.
Sämtliche Gespräche drehen sich um die Frage, wie es Hoffnung für unseren Planete, die Natur und somit auch für die Menschheit angesichts von Klimakatastrophen, sozialer Ungerechtigkeit und zunehmendem Hass geben kann. JG sieht eine Chance, wenn möglichst viele Menschen Verantwortung übernehmen. JG zeigt sich vor allem von ihrer weisen und spirituellen Seite und als beeindruckende Natur- und Menschenfreundin. Sie wird durch das Interview-Format sehr leicht verständlich und behandelt die Fragen der Zukunft, die uns alle angehen. Deshalb sie will möglichst viele, nicht nur eine Elite, erreichen. Das Werk endet mit dem Rückblick beider Autoren und ist somit trotz der einfachen Sprache mehrperspektivisch und komplex, persönlich offen und authentisch, introspektiv, subjektiv und philosophisch. Es endet mit umfangreichen Literaturangaben zu den einzelnen Themen.
Das Buch wird mit seinem ungewöhnlichen Format und seinen eindringlichen Inhalten zu einem wichtigen Zeitdokument, befindet Gudula Ritz.
Die Biografieempfehlung des Monats Oktober 2024
Dieter Schickling: Giacomo Puccini. Biografie.
Stuttgart: Reclam (Carus)2017 3. erweiterte Auflage
Am 24. November jährt sich der Todestag Giacomo Puccinis (GP) zum 100. Mal. Ein guter Zeitpunkt, um die Biografie von Dieter Schickling zu lesen.
GP gehört inzwischen zu den meistgespielten Komponisten in den Opernhäusern. Ich muss gestehen, ich entdeckte ihn erst vor 10 Jahren, als ich Tosca an der Opéra in Paris sah. Natürlich kommt es immer auf die jeweilige Inszenierung an, aber ich entdeckte in dem Werk neben großartigen Arien auch zahlreiche ironische sowie zeit- und kirchenkritische Elemente.
In einer politisch umwälzenden Epoche war GP gleichzeitig traditionell und modern. In Tosca ist der historische Hintergrund beispielsweise real, die Handlung von Tosca hingegen frei erfunden. Das Biografie-Kapitel zu Tosca nennt sich Politik nach Noten.
Bis in die 1980ger Jahre hinein galt GP als wenig bedeutender Komponist. Danach begann sich eine differenziertere Sicht durchzusetzen. Es taten sich zunehmend weitere Quellen auf, deren Studium sich der Biograf mit viel Sachkenntnis akribisch gewidmet hat. Seine Erkenntnisse hat er in dieser Biografie zusammengefasst. 1996 wurde in Lucca, dem Geburtsort Puccinis, das Internationale Forschungszentrum Centro studi Giacomo Puccini gegründet, dessen Arbeit bahnbrechende Fortschritte und Erkenntnisse zeitigte. Trotzdem wurde GP lange Zeit nicht als eigenständiger und moderner Künstler erkannt. Es ging ihm darum, mit seiner Musik Emotionen zum Ausdruck zu bringen, die im Nachhinein betrachtet, moderne Emotionen sowie die Beziehungsdynamik in der heutigen Zeit vorwegnahmen. Möglicherweise, weil man die Arien musikalisch eher bei den Hörgewohnheiten aus der Zeit Verdis verortete, wurde er lange verkannt. Um Innovation, Modernität und Einzigartigkeit zu erkennen, muss man schon genauer hinschauen, meint Schickling. Die nicht – naive Situation braucht vor allem nicht-naive Hörer.
GP wird in eine Zeit des politischen Umbruchs hineingeboren: am 22. Dezember 1858 in Lucca als Sohn eines Kirchenmusikers in eine weiblich dominierte Großfamilie mit vier älteren Schwestern. Über die Kindheit ist wenig bekannt, er erhält aber eine ordentliche Schulbildung und wechselt 1871 auf eine Art Musikgymnasium, an das Istituto musicale Pacini. Als er 6 Jahre alt wird, stirbt sein Vater. Er ist nie ein fleißiger Schüler, wird auch später in Mailand kein fleißiger Student, jedoch mit eigenwilligen Zielen und Interessen für seine eigene Arbeit, mit der er schon früh beginnt. Sein Ziel ist das Konservatorium in Mailand, und das Bittschreiben seiner verwitweten Mutter wird von der Königin Margherita erhört. GP erhält ein Stipendium für das Konservatorium. Dort besteht er die Aufnahmeprüfung mit Leichtigkeit, kann seinen Interessen an Theater- und Opernaufführungen nachgehen und studiert Komposition. Er beginnt mit eigenen Werken. Wie sein Biograf behauptet, habe er sich jedes Stück erarbeitet, jahrelang. Er ist sehr kritisch und ändert sie oft ab, oft auch in der letzten Sekunde. Das Einfache, das schwer zu machen ist: Puccini hat in seiner Arbeit Brechts politisch bezogene Formel als Künstler gelebt.“ Sein letztes vollendetes Werk, das Trittico, realisiert eine moderne Kurzform, die für Opern ungewöhnlich ist: drei unverbundene Einakter, die, hintereinander gespielt, einen Theaterabend ergeben. Er stirbt am 29. November 1924 in Brüssel. Als letztes schreibt er eine kurze Notiz an seine Frau Elvira.
Das Buch stellt nicht nur die Biografie eines berühmten Opern-Komponisten dar, sein Leben wird in die Zeitgeschichte eingebettet und musikwissenschaftlich verortet. Der Anhang A, ein Chronologisches Verzeichnis von Puccinis Aufenthalten, Reisen und Theaterbesuchen, umfasst fast 40 Seiten. Ein großer Teil des Materials ist nach Aussagen von Schickling noch nicht zugänglich, und man darf somit auf weitere Auflagen mit neuen Erkenntnissen zum Privateleben Puccinis hoffen.
Persönlich freue ich mich auf den Genuss weiterer Inszenierungen von Puccini-Opern. Diese Biografie stellt eine fundierte Einführung in sein Leben und Werk dar, meint Gudula Ritz.
Die Biografieempfehlung des Monats November 2024
Charlotte Malterre-Barthes / Zosia Dzierzawska: Eileen Gray. A House Under The Sun. London / New York: Nobrow Press 2019
Dieses Mal präsentieren wir in unserer beliebten Rubrik das höchst ungewöhnliche Porträt einer außerordentlichen Frau. Im grauen November entführen wir Sie in den Sommer an der Côte d'Azur.
Das Leben der irischen Designerin und Architektin Eileen Gray (1878-1976) ist eng verknüpft mit ihrem Meisterwerk E-1027 in Roquebrune-Cap Martin. Dementsprechend erzählen Carlotte Malterre-Barthes (Text) und Zosia Dzierzawska (Illustrationen) in dieser großartigen Bildergeschichte sowohl das Leben Eileen Grays (EL) wie die Geschichte jenes Hauses, das sie als gemeinsamen, schwer zugänglichen Rückzugsort mit ihrem damaligen Liebhaber Jean "Bado" Badovici (1893-1956) entwarf und, in den Umrissen einem gestrandeten Boot ähnelnd, 1929 an die Küste des Mittelmeers setzte. Ein Bauwerk, in dem sich langjährige Ideen und daraus entwachsende Konzepte materialisierten.
Ihre ästhetischen Positionen einer Verzahnung von Raum- und Nutzungsplanung entscheiden sich jedoch gravierend von denen, die von Le Corbusier (1887-1965) erfolgreich popularisiert werden. Sie stellt die "Inhumanität" seines "Machine-à-Habiter"-Konzepts in Frage und verlangt von Wohnungen, mehr als lediglich Mauerwerk zu sein. Das Meublement wird in E-1027 zu einem essentiellen Bestandteil der Architektur. Durch einen Artikel von Badovici in der Zeitschrift "L'Architecture vivante" wird das Haus rasch bekannt und durch zahlreiche Besucher als Rückzugsort entwertet. 1931 verlässt EL das Haus wie auch Badovici. Sie lebt zurückgezogen in Paris und in ihrem neuen Haus Tempe à Pailla bei Menton. Le Corbusier ist von E-1027 begeistert und 1938 erlaubt ihm Badovici, dort eine Serie großformatiger Wandmalereien (Murales) anzubringen, die EL als skandalösen Eingriff in ihr Werk empfindet.
In diesem Buch zeigen Malterre-Barthes und Dzierzawska eindrucksvoll auf, wie sehr Corbusiers Eingriffe die strukturelle Integrität des Innenraums zerstören sowie Raumempfindung und Totalität ihres Hauses unter der Sonne als Ensemble kompromittieren. Wegen dieses Vorfalls sowie der Tatsache, dass sowohl Le Corbusier wie auch Badovici öffentlich geäußerten Behauptungen, sie seien die Planer und Erbauer von E-1027, nicht engegentreten, bricht EL sämtliche Beziehungen ab. Sie wird vergessen, ihr Name wird aus dem Kanon moderner Architektur getilgt. Ein bitteres Künstlerinnen-Schicksal. Erst in ihren letzten Lebensjahren werden ihre Leistungen gewürdigt und sie als Architektin ihres Meisterwerks E-1027, heute mit den von ihr verabscheuten, aber erhalten gebliebenen Wandmalereien als Museum zugänglich, rehabilitiert.
Das Buch gewährt luzide Einblicke in beides: In signifikanten Zeitsprüngen, behutsamen Illustrationen und präzis formulierten Dialogen werden Leben und Werk Eileen Grays eindrucksvoll in Szenen gesetzt. Maliziöserweise heißt sein erstes Kapitel "The Last Swim". Es illustriert die frühen Morgenstunden des 27.08.1965, als Le Corbusier von E-1027 zum Schwimmen aufbricht und im Mittelmeer ertrinkt. Ebenso Lesevergnügen wie Augenschmaus, konstatiert Alfons Huckebrink.
Die Biografieempfehlung des Monats Dezember 2024
Oliver Fischer: "Man kann die Liebe nicht stärker erleben" Thomas Mann und Paul Ehrenberg. Hamburg: Rowohlt 2024
Im 100. Jahr seit Veröffentlichung des Zauberberg-Romans scheinen sich biografische Abhandlungen über die zahlreichen Mitglieder der Mann-Familie (Brüder Heinrich und Thomas, Kinder, jeweilige Partner*innen) gut verkaufen zu lassen. So häufen sich Publikationen zu verschiedenen, mitunter befremdlichen Aspekten und biografischen Episoden der Manns, leicht nachzuvollziehen mittels Suchanfrage auf einer beliebigen Verkaufsplattform.
Einen aus schierer Fülle herausragenden Beitrag stellt Oliver Fischers Buch über die enge Freundschaft zwischen Thomas Mann und dem Maler Paul Ehrenburg dar: Man kann die Liebe nicht stärker erleben. Ein akribisch recherchiertes und einfühlsam verfasstes Portrait der langjährigen Beziehung zwischen den beiden von Charakter und Temperament so verschiedenen Männern.
Die beiden lernen sich 1899 in einem Münchner Salon kennen. Thomas Mann schreibt gerade an seinen Buddenbrooks und arbeitet als Redakteur der Zeitschrift Simplicissimus; Paul Ehrenberg studiert Tiermalerei. Fischer gelingt es, das Leben der beiden Künstler annähernd gleichrangig zu gewichten, wenngleich immer deutlich bleibt, dass das Schicksal des Malers ohne seine Beziehung zum späteren Literaturnobelpreisträger wenig öffentliche Beachtung gefunden hätte. Gerade die sich erst später herausbildende Diskrepanz zwischen beider Entwicklung macht einen Reiz dieses Buches aus.
Jedoch schon, als sie sich kennenlernen, erscheinen sie als ungleiches Paar. Der lebenslustige Paul schleppt den zurückhaltenden Thomas mit in Kaffeehäuser, feiert mit ihm Fasching auf Münchner Bauernbällen. Sie unternehmen Radtouren. Der Maler verkörpert für den Schriftsteller Leichtigkeit und Lebensfreude.
Auch als sich nach manchen Irritationen und Missverständnissen diese enge Freundschaft lockert, bleibt die Verbindung bestehen, bis sich ihre Wege 1933 endgültig trennen. Thomas geht den Weg ins Exil, Paul lebt in Plauen und biedert sich bei den Nazis an, ist sich nicht zu schade für die Portraits von Regimegrößen (Abbildung im klug bestückten Bildteil des Werks). Anfang Oktober 1949 stirbt Paul auf der Reise nach München in Hof. Am 22. November sitzt Thomas in seiner Villa in Los Angeles und schreibt einen Kondolenzbrief an Pauls Bruder Carl. Er erinnert an die guten, vertraulichen und begeisterten Stunden, die er mit den beiden verbrachte. Momente, die nie aufgehört hätten, einen glücklichen Gefühlswert in meinem Leben zu bilden. Und noch vierzig Jahre danach notiert er in seinem Tagebuch: Man kann die Liebe nicht stärker erleben.
Das Buch ist nicht nur eine biografische Glanzleistung, sondern eröffnet auch manche Einsichten in zeitgeschichtliche Zusammenhänge, etwa die moralisch-kulturelle Ablehnung sowie die strafrechtlichen Repressionen, die das Ausleben der Homosexualität bedrohten.
Ein äußerst lesenswertes Buch, und das nicht nur zur Weihnachtszeit, meint Alfons Huckebrink.